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Der „Jüdisch-Christliche Freundeskreis Wesel e.V.“

Gespräch mit Günter Faßbender

Herausgeber: Stadt Wesel

Günter Faßbender, 1982, Quelle: Stadt Wesel

Engagierte Bürgerinnen und Bürger der Stadt Wesel gründeten im Jahre 1994 den „Jüdisch-Christlichen Freundeskreis Wesel e. V.“. Günter Faßbender, von 1978 bis 1990 Stadtdirektor in Wesel, leitete als Initiator und Vorsitzender über eine weite Strecke die Arbeit des Freundeskreises. Im Jahr 2010 gab er den Vorsitz ab und Wolfgang Jung, der langjährige Kulturdezernent und Erste Beigeordnete der Stadt Wesel, übernahm als neuer Vorsitzender die Aufgabe, die Geschicke des Vereines zu lenken. Aktiv und rührig für „seinen“ Freundeskreis blieb der nun „Ehrenvorsitzende“ Günter Faßbender freilich weiterhin.

Im Sommer 2012 hat Günter Faßbender in mehreren Gesprächen bei ihm zu Hause über die Anfänge und die Arbeit des Jüdisch-Christlichen Freundeskreises Auskunft gegeben und die Geschichte des Vereins erzählt. Der folgende Text stellt eine Zusammenfassung dieser Gespräche dar. Die Gesprächspartner waren der Vorsitzende Wolfgang Jung, Vorstandsmitglied Paul Borgardts und Norbert Terfurth aus dem erweiterten Vorstand. Für die spontane Bereitschaft Günter Faßbenders, Auskunft zu geben, sowie vor allem für die herzliche Gastfreundschaft bei ihm und seiner Frau Kati sei beiden herzlich gedankt.

Frage: Sehr geehrter Herr Faßbender, der 50. Jahrestag der Pogromnacht im Jahr 1988 hat in Wesel mit zahlreichen Veranstaltungen ein Zeichen politischer und gesellschaftlicher Anteilnahme gesetzt. Am jüdischen Friedhof am Ostglacis wurde eine Gedenktafel mit den Namen aller Verfolgten angebracht und im Centrum gab es eine Ausstellung über jüdische Friedhöfe in Wesel. Höhepunkt war die Enthüllung des Mahnmals zur Erinnerung an die Pogromnacht am Willibrordi-Dom mit dem anschließenden jüdisch-christlichen Gottesdienst im Dom. Aus der Rückschau erscheint die damalige Einladung der ehemaligen jüdischen Bürger Wesels als ebenso bedeutsam wie folgenreich. Die Veranstaltungen hatten zudem politisch interessierte Weseler Bürgerinnen und Bürger zusammengeführt. Diese hielten ein beständiges Engagement für wesentlich und wollten es nicht bei den Gedenktagen belassen. Was war Ihr persönliches Motiv, dieses Engagement mitzugestalten? 

Günter Faßbender: Eigentlich war es die Tatsache, dass sich nach der Veranstaltung am 9. November die Politik kaum mehr berufen fühlte, mit den jüdischen Freunden, die uns besucht hatten, eine dauerhafte Verbindung aufrechtzuerhalten. Das hat mich geärgert. Die jüdischen Bürgerinnen und Bürger sollten nicht empfinden, dass sie lediglich für die Einweihung des Mahnmals die weite Reise auf sich genommen hatten. Sie kamen ja immerhin aus den USA, aus Chile, Israel und Großbritannien. Es hätte für sie zumindest so aussehen können, dass die Einladung nach Wesel in erster Linie oder nur für den Zweck der Errichtung
des Mahnmals ausgesprochen worden war. Das war natürlich nicht so, und das wollten wir zeigen. Wirkliche christlich-jüdische Freundschaft heißt mehr, verlangt mehr als Begegnung bei Gedenkveranstaltungen. Wir fühlten uns einfach in der Pflicht.

Und ich war nicht der Einzige, der so empfand. Es war zunächst ein kleiner Kreis von ungefähr zehn bis zwanzig Engagierten. Die besonders aktiven waren Werner Abresch, Herbert Heybach, Christel Kleppe,  Heinrich Pauen und Rainer Hoffmann. Im Laufe der von uns organisierten Veranstaltungen kamen immer mehr Interessierte hinzu. Das hat uns natürlich gefreut und in unserem Engagement bestärkt. Unterstützer hatten wir nicht zuletzt auch in den beiden christlichen Kirchen, vor allem der Evangelischen Kirche.

Waren Sie zu dieser Zeit noch in einer offiziellen städtischen Funktion? Oder war Ihr Engagement privat?

Es war und blieb meine private Initiative. Den Anstoß hatten meine eigenen Erfahrungen als Jugendlicher im „Dritten Reich“ gegeben. Die Zeit des Nationalsozialismus war für mich in Wesel nicht ausreichend aufgearbeitet. Eine wissenschaftliche Aufarbeitung, vor allem durch die ehemalige Leiterin des Weseler  Stadtarchivs, Frau Dr. Jutta Prieur-Pohl, war freilich erfolgt. Aber das Buch Auf den Spuren der Juden in Wesel  und die Ausstellung über die jüdischen Friedhöfe waren in der Öffentlichkeit nicht so stark wahrgenommen  worden, wie wir das erhofft hatten.

War denn nicht mit der Errichtung und Einweihung des Mahnmals für Wesel ein wichtiger Impuls für das Erinnern an die Verfolgung der jüdischen Weseler gesetzt worden?

Natürlich. Das konnte man insbesondere bei der Veranstaltung im Willibrordi-Dom spüren. Das Interesse der Weseler an ihren früheren Mitbürgerinnen und -bürgern war sehr groß. Die Weseler und ihre Gäste saßen sich in der Kirche an Tischen gegenüber. Diese Sitzordnung entsprach dem Bedürfnis des Augenblickes, in Kontakt zu kommen und Gespräche miteinander zu führen. In diesen Gesprächen konnten unsere Gäste erfahren, dass die Menschen in Wesel, mit denen sie es jetzt zu tun hatten, andere waren als die zur Zeit des Nazi-Regimes. Wie ich später erfuhr, erinnerten sie sich positiv ganz besonders an diese Veranstaltung im Willibrordi-Dom am 9. November 1988.

Einen wirklich unschönen Moment während des Besuches gab es dann später bei einer Fahrt nach Xanten. In der Nacht vor dieser Fahrt waren in Xanten antisemitische Parolen an Hauswände geschmiert worden. Schrecklich, unsere Gäste waren entsetzt. Es war dem damaligen Bürgermeister Volker Haubitz sowie Ernest Kolman aus London und Erich Kupfer aus New York zu verdanken, dass sich die Situation dann wieder beruhigte.

Wie ging es dann nach diesem Besuch weiter?

Nach dem Besuch im November 1988 habe ich angeregt, die Kontakte in einer Art privatem Freundeskreis zu pflegen, ohne dass zunächst an eine offizielle Vereinsgründung gedacht war. Über die Verbands-Sparkasse und die Raiffeisen-Bank erhielten wir für unsere Arbeit zum Glück auch finanzielle Unterstützung. So konnten wir einerseits weitere Einladungen an die ehemaligen jüdischen Mitbürger aussprechen, zum anderen hier in Wesel Veranstaltungen zum Thema finanzieren und Fahrten wie die zum Anne-Frank-Haus in Amsterdam  durchführen. Durch unsere Aktivitäten in Wesel fühlten sich im weiteren Verlauf immer mehr Menschen  angesprochen. Viele kamen auf uns zu und wollten gerne mitmachen. So wurde mit der Zeit aus der kleinen Gruppe eine größere Initiative.

Die Vereinsgründung selbst wurde dann aus eher formalen Gründen nötig. Spenden etwa konnten von Institutionen auf Dauer nur an eine offizielle Einrichtung fließen. Und so haben wir den Kreis von Menschen angeschrieben, der regelmäßig unsere Veranstaltungen besucht hat. Im Pfarrheim von St. Mariä Himmelfahrt sind dann im Januar 1994 rund 50 Personen zusammengekommen und haben den Freundeskreis als Verein gegründet. Abgesehen vom Engagement einzelner Politiker aus SPD und CDU stand unser Anliegen, wie gesagt, nicht auf der politischen Tagesordnung. Das hat sich im Laufe der Jahre und besonders heute wesentlich zum Positiven geändert. Veranstaltungen werden in Abstimmung und mit Hilfe der Verwaltung und der Politik vorbereitet und durchgeführt. Für die Aktion „Stolpersteine“ des Künstlers Gunter Demnig etwa, um nur ein wichtiges Beispiel zu nennen, hat das Stadtarchiv die Federführung. Schulen sind bei diesem Projekt regelmäßig mit Hintergrundrecherchen eingebunden. Wie das gemacht wird, ist vorbildlich und verdient Anerkennung und Unterstützung.

Gab es zu Ihrem Engagement aus der Bürgerschaft denn auch Kritik?

Das war so. Leider. Vorbehalte in der Bevölkerung waren vorhanden, auch wenn sie selten artikuliert wurden. Möglicherweise war das der Grund, warum sich die Politik in Wesel für unser Anliegen zunächst nur zurückhaltend engagiert hat. Eine positive Rolle spielte die Presse. NRZ und Rheinische Post berichteten ausführlich über unsere Aktivitäten. Sie zeigten großes Interesse und brachten immer wieder Hintergrundberichte zum Thema. In der Folge wuchs allgemein das Interesse an unserer Arbeit, so dass auch jüngere Menschen Kontakt zu uns aufnahmen und Veranstaltungen besuchten. Neben der Presse zeigten sich auch die Kirchen weiterhin sehr interessiert an unserer Arbeit. Bei den späteren Besuchen unserer jüdischen Freunde gingen wir dann auch in die Schulen. Die Schüler dort waren sehr interessiert an dem Thema der Judenverfolgung und dem Schicksal der Juden. Eher die Elterngeneration war bei diesem Thema zurückhaltend.

von links: Jacques Marx, Volker Haubitz, Heinrich Pauen (Pfarrer von St. Martini), Quelle: Stadt Wesel

Heute sind glücklicherweise ein großes Engagement und eine entsprechende Sensibilität bei der Aufarbeitung unserer Geschichte zu beobachten. Zu den Gedenktagen finden zahlreiche Veranstaltungen statt. Erarbeitet und durchgeführt werden diese oft von Schülerinnen und Schülern und deren Pädagogen.

Einweihung des Mahnmals am Willibrordidom, 1988, Quelle Stadt Wesel

Muss nicht auf der anderen Seite aber auch die wachsende rechtsradikale Tendenz in unserer Gesellschaft zur Kenntnis genommen werden? Wie beurteilen Sie den heutigen Stand der Aufarbeitung und die aktuelle Lage? Glauben Sie, dass die junge Generation heute nachhaltig demokratisch gefestigt ist?

Im Ganzen, insbesondere in den Bildungsschichten, sehe ich heute glücklicherweise wenig  antidemokratische und antisemitische Entwicklungen bei der jungen Generation. Aber es gibt doch immer noch und immer wieder und zum Teil sogar wachsende rechte Tendenzen in unserer Gesellschaft.
Und das auch bei der Jugend. Das darf man nicht verharmlosen. Rechtsradikalismus und Rassismus in jeder Schattierung müssen wir uns entschieden entgegenstellen. Wir müssen zeigen, dass wir aus der Geschichte gelernt haben. „Wehret den Anfängen“, das bleibt Aufgabe für die Gesellschaft, für die Politik und für jeden Einzelnen. Und natürlich für unseren Verein.

Ernest Kolman, einer der 16 emigrierten Weseler, welche 1988 der Einladung zu den Gedenkveranstaltungen gefolgt und nach Wesel gekommen waren, er lebt heute in London, ist sicherlich eine herausragende Person in den Beziehungen der Stadt Wesel zu ihren ehemaligen jüdischen Mitbürgern.

Wie beurteilen Sie seine Bedeutung für die jüdisch-christliche Aussöhnung in unserer Stadt?

Ernest Kolman ist seit 1988 fast jedes Jahr nach Wesel gekommen. Er ist bisher über 30 Mal bei uns gewesen. Ich wurde daher ständig, vor allem von der Presse, gefragt: Was macht Ernest Kolman? Dabei besuchte er während seiner Aufenthalte in Wesel immer auch die Redaktionen der Lokalzeitungen. Und die  Veranstaltungen zum 9. November waren ohne Ernest Kolman eigentlich gar nicht denkbar. Dabei war und  ist er sicherlich nicht immer ein bequemer Gast. Das ist ihm sehr bewusst. Es ist ihm auch gar nicht daran gelegen, bequem zu sein, im Gegenteil. Er sieht es vielmehr als seine Pflicht an, über das Leid, welches ihm  und seiner Familie von den Nazis angetan wurde, zu berichten und zu mahnen. Deswegen war und ist es ihm sehr wichtig, den Kontakt zur jungen Generation aufrechtzuerhalten. Der Besuch einer Weseler Schule  gehört selbstverständlich jedes Mal zum Besuchsprogramm von Ernest Kolman. Wie übrigens auch alle  anderen einstigen jüdischen Bürger Wesels ging er, wenn er nach 1988 wieder Wesel besuchte, als erstes  immer zum Mahnmal am Willibrordi-Dom. Und als er einmal bei einem Besuch feststellen musste, dass das Mahnmal verschmutzt war, hat er es unter Begleitung der Presse eigenhändig mit Schrubber und Seife  gereinigt.

Durch sein persönliches Engagement ist die Rolle jüdischer Soldaten im Ersten Weltkrieg hier in Wesel beleuchtet worden. In der Synagoge hing eine Gedenktafel, die an die Opfer unter den Soldaten auf Seiten der jüdischen Gemeinde erinnerte. Wie die Synagoge wurde auch diese Gedenktafel in der Pogromnacht zerstört. Durch das Engagement von Ernest Kolman ist diese Gedenktafel erneuert und auf dem Friedhof an der Caspar-Baur-Straße angebracht worden.

Dabei ist Ernest nicht der einzige unserer ehemaligen jüdischen Mitbürger, der sich für die Aufarbeitung der Geschichte in Wesel eingesetzt hat. Im Jahr 2009 wurde eine Tafel zum Gedenken an die verfolgten und ermordeten Familien am Rathaus von Wesel angebracht. Unser leider 2011 verstorbener Freund Erich Kupfer, der diese Tafel gestiftet hatte, war anlässlich der Enthüllung mit seinen neunzig Jahren aus New York angereist. Aber zurück zu Ernest Kolman. Ein ganz besonders eindrucksvolles Erlebnis mit ihm war sein Vortrag vor Schülerinnen und Schülern nach der Aufführung des Theaterstücks Jakob der Lügner im Bühnenhaus am 10. November 2008. Man konnte förmlich spüren, wie die Anwesenheit und die Geschichte dieses Zeitzeugen die Schülerinnen und Schüler bewegte. Leider ist es Ernest aufgrund der Erkrankung seiner Frau in den letzten Jahren schwerer gefallen, Wesel regelmäßig zu besuchen.

Ernest und Eva Kolman mit Günter Faßbender in Wesel, 9. November 1994, Quelle: Stadt Wesel

Ernest Kolman ist einer der letzten noch lebenden Zeitzeugen aus Wesel, die über die Geschichte des „Dritten Reichs“ aus eigenem Erleben etwas sagen können. Mit dem Verlust der unmittelbar betroffenen Zeitzeugen stellt sich die Frage, wie die Erinnerung wachgehalten werden kann.

Als eine zentrale Aufgabe des Vereins sahen wir von Anfang an die Vermittlung der Geschichte in den Schulen. Wir hatten schon lange die Idee einer „Schule gegen Rassismus“. Besonders von der Gesamtschule in Wesel ist dieser Gedanke vorbildlich realisiert worden. Die Gesamtschule am Lauerhaas war es, welche die beeindruckende Veranstaltung mit Sally Perel im November 2011 auf den Weg gebracht hat. Zu Recht hat die Gesamtschule für ihr umfangreiches Engagement gegen Rassismus im Jahre 2012 den Integrationspreis der Stadt Wesel erhalten. Auch die Weseler Gymnasien haben sich des Themas angenommen und organisieren heute Veranstaltungen, zum Beispiel abwechselnd mit der Gesamtschule die Gedenkveranstaltung zur Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Diese findet alljährlich am 27. Januar im Willibrordi-Dom statt. Es ist gut, dass die Gymnasien und die Gesamtschule zu diesem wichtigen Gedenktag Jahr für Jahr die  Federführung übernehmen. Der Gedenktag am 27. Januar sollte meines Erachtens auch dazu genutzt werden, sich gegen neue rassistische Tendenzen zu wenden.

Ein weiterer wichtiger Gedenktag ist der 9. November. Am 9. November 1938 brannten in Deutschland die Synagogen. Jüdische Bürger wurden misshandelt, und zahlreiche Menschen verloren bei den brutalen Ausschreitungen ihr Leben. Die Pogromnacht war der organisierte Startschuss, welcher zum Massenmord an den Juden führte. Es war und ist unsere Verpflichtung, diesen Gedenktag in Wesel Jahr für Jahr angemessen zu begehen. Seit einigen Jahren findet er im Städtischen Bühnenhaus statt, im Programm begleitet auch immer wieder von jungen Menschen, etwa der Theatergruppe der Evangelischen Kirchengemeinde
Dinslaken. Bis heute beschließen wir die Gedenkveranstaltung mit einem gemeinsamen Lichtergang zum jüdischen Mahnmal am Willibrordi-Dom.

Günter Faßbender und Erich Leyens in Konstanz, 1997, Quelle: Stadt Wesel

Was haben Ihnen Ihre Kontakte mit den jüdischen Mitbürgern persönlich bedeutet?

Während meiner Schul- und Studienzeit bin ich mit der Situation konfrontiert worden, dass über die jüngste Vergangenheit von Seiten der Lehrer und der Professoren geschwiegen wurde. Man hörte schlichtweg nichts zu den Verbrechen. Das hat sicherlich auch daran gelegen, dass viele Menschen, die während der Nazi-Zeit zu den Tätern gehörten, nachher in guten Positionen der Bundesrepublik waren. Daher schwieg man die Verbrechen tot. Aus diesem Grund waren die direkten, privaten Kontakte zu unseren jüdischen Freunden für mich ganz persönlich und für viele in unserer Stadt Wesel immer ein besonderer Gewinn. Bis heute.