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Aufsatz zu einer Stadtführung „Jüdisches Leben in Wesel“

Organisiert durch die Stadtinformation Wesel, geplant ab 11.00 Uhr, zu Fuß – natürlich - ab Großem Markt

von Wolfgang Offergeld aus Wesel, 05. November 2017

Achtung! Hinweis für Leseverbraucher, bevor ich anfange, aufzuschreiben: Diese private Reportage wird möglicherweise persönliche Betroffenheit aufweisen ! Ebenso werden Sie vermutlich den Eindruck gewinnen, dass ich ab und an den Pfad einer objektiven Bericht- erstattung verlasse. Träfe dies Ihres Erachtens zu, wäre es meinem sehr emotionalen Befinden zu den nach wie vor unfassbaren Verbrechen an jüdischen Menschen geschuldet. Oder deutlicher: Ich habe überhaupt keine Lust und Fähigkeit, über eine Stadtführung zu diesem Thema ohne persönliche Empfindungen zu berichten.

Was war denn?: Zuerst eine Zeitungsanzeige der Stadtinformation Wesel. Es würde nur 6,-- EUR kosten und für die Führung solle man anderthalb bis zwei Stunden einplanen. Da wollte ich jetzt aber unbedingt dabei sein, hatte ich doch jahrelang solche Termine in Wesel geschludert. Das jüdische Leben in meiner Heimatstadt Oberhausen habe ich mir, so gut es geht, „einverleibt“ , durch Stadtführungen, Ausstellungen, Filmaufführungen und zuletzt durch Besuche im Stadtarchiv. Aber ich lebe jetzt schon seit 1979 in Wesel, es wird mal langsam Zeit, schließlich habe ich nur Zeitungswissen zu Erinnerungstagen, zu Einzel-schicksalen, beispielsweise über den wohl wunderbaren Zeitzeugen und Mahner Ernest Kolman, dessen Auftritte zum Gedenken an die Pogromnacht ich immer beiwohnen wollte und die ich terminlich jedes Jahr in den Sand setzte. Die Erwartung, dass jetzt meine telefonische Anmeldung zur Stadtführung schiere Begeisterung auslösen würde, reduzierte die nette Dame vom der Stadtinformation Richtung Bodennähe. „Ausgebucht“, so ihr Tenor und meine Bitte, mich dranzuhängen, erweichte aus organisatorischen Gründen auch nicht ihr Herz. Ich tat verständnisvoll und beschloss einen neuen Anlauf am Veranstaltungstag.

Genug mit Vorgeplänkel, wie war`s denn ? Es war gut, sehr informativ und, natürlich, bewegend. Und ich will noch einplänkeln, dass ich mit Wonne dem gemütlichen Sonntagsmorgengewohnheitstier den Stinkefinger gezeigt habe. Kein Bäcker, der mich zwingt , fünf Brötchen zu essen, obwohl ich nur zwei kaufen wollte. Keine zusätzliche Zeitung, die wie meine beiden anderen auch nicht „alle“ wird, kein Bluthochdruck angesichts (sagt man das auch für Zuhören?) des tiefen Niveaus, auf das sich das WDR2-Radioprogramm ohne Not runtergeschreddert hat. Sowas und betuliches mehr will man am Sonntagmorgen eigentlich nicht, man will kreativ sein und sportlich aktiv, wie früher. Schön, dass mir das am Sonntagmittag wenigstens noch auffällt. Aber heute nicht, kein Frühstücksei, nur ein Kaffee und auf`s Fahrrad, unterm Bahnhof her, mitten durch die Einkaufsmeile, keine Oma, die sich darüber aufregt. Sonntag, 10.10 Uhr, Großer Markt Wesel. Ich bin alleine auf der Welt, es piepen nicht mal Vögel. Ich fotografiere von der Volksbank aus den Dom. Das Foto zeigt nichts organisches, nur die Häuser, eben den Dom und mein Fahrrad, mitten auf dem nackten Markt stehend. Wird schon, sagte ich mir, geh` mal um den Dom rum, der ist ja so evangelisch wie ich. Ich las auf vorher nie gesehenen Schildern, warum der dort stand und gelangte an eine offene Seitentür. Dem Mann, der darin stand, erzählte ich unaufgefordert, dass ich noch nie drin gewesen sei und chronistisch eigentlich nur die furchtbaren Bilder kennen würde, die die Kriegsbomben hinterlassen hätten. Ich solle ruhig reinkommen und kucken, sagte er. Ich kuckte und war beeindruckt. Von dem warmen Licht der Lampen, die partiell Altar und Bänke für den anstehenden Gottesdienst ausleuchteten, von der Räumlichkeit, von den Winkeln der Schiffe zueinander und von der Ruhe. Ich nehme an, dass der Leser dieser Zeilen mutmaßt, dass eine gewisse Distanz zwischen mir und der Kirche an und für sich besteht. Zu recht, aber er weiß ja nicht, dass mir nie eingefallen wäre, aus dieser auszutreten; was ja angesichts zeitlebens gezahlter Kirchensteuer ein Lichtlein darauf wirft, ihr ein anständiges christliches Begräbnis für mich abverlangen zu dürfen. Mir fiel die Dame ein, die bei uns in der Siedlung immer die Kirchenblätter in die protestantischen Briefkästen wirft. Diese Blätter zeigen mir, dem ewigen Ortsfremdling, aber nie, wo „meine“ Kirche denn steht und so fragte ich sie, wo denn wohl mein Sarg aufgebahrt würde, wenn ich mal tot wär für`s ganze Leben. Sie war leicht irritiert, stellte mir aber anheim, dass ich mir das aussuchen dürfe, also vor meinem Tod. Entweder „hier auf dem Fusternberg oder im Dom“! Jetzt, in diesem tollen Dom stehend, war klar: Da vorne, wo das warme Licht ist, da soll mal meine Holzkiste stehen, ich tu dann auch was in die Kollekte. Ich frohlockte, mit dieser Begräbnisverfügung hatte ich als Nebenprodukt zur anstehenden Stadtführung mit einer Klappe die zweite Tagesfliege geschlagen. Sowas geht nur, wenn man den Arsch hoch kriegt und sich nicht zu Hause mit 5 Brötchen und 2 Frühstückseiern und dem WDR-2-Programm Magen und Kopf zukleistert. Ein guter Tag, obwohl mir schon auffiel, dass ich meine zweite Heimatstadt Wesel ganz schön stiefmütterlich behandelt habe.

Ich verließ den Tempel, ohrenbetäubendes Glockengeläut verabschiedete mich, dass in der Nähe liegende Konkurrenzunternehmen bimmelte tapfer mit. Jetzt war Wesel wach. Ich ging auf das Stadtbüro zu, sah, dass sich Menschen vor dem Schaufenster sammelten, ganz augenscheinlich die, die sich rechtzeitig angemeldet hatten. Eine blonde Dame kam von rechts, zielstrebig, eine Aktenmappe unter dem Arm. Ich wusste, sie war mein Mann! Ich sprach sie an, fegte die rudimentären Reste meines vor dem Krieg noch sehr wirksamen Charmes zusammen und bat sie, mich dem gebuchten Menschenkreis zuzufügen. Sie zierte sich ein wenig, erlag dann aber dem oben zitierten Charme. Etwas irritiert registrierte ich allerdings, dass sie zwei weiteren ungebuchten Menschen ebenfalls eine Zusage gab. Das war dann aber ihre Toleranzgrenze, andere wurden auf die nächste Veranstaltung verwiesen. Dann stellte sie sich vor; Frau Klein hieße sie und sie sei unsere heutige Stadtführerin zum ausgewiesenen Thema. Für den Fall, liebe Frau Klein, dass Sie das hier mal lesen: Sie haben das ganz prima gemacht.

Damit hatten sich gut 20 Menschen zu dieser Führung zusammengerudelt und ich geb`zu , dass ich neugierig war, wie die sich „zusammensetzten“. Einige ältere Herren, noch älter als ich, klar, mehrere „mittlere“ Ehepaare, ein paar Mädchen und junge Frauen, man war nicht der einzige geschichtsinteressierte unter der Sonne Wesels. Ich merke hier beim Aufschreiben, dass ich wohl erwartet hatte, dass der Rudelführerin eine gramgebeugte Greisenschar hinterherhumpeln würde, graumeliert im und auf dem Kopf. Nein, schelte ich mich selbst und mache mir einen dickroten Vermerk in meine Vorurteilskladde, nein, weit gefehlt, es war eine frische Truppe, die sich nicht kannte, aber anfängliche Distanz von Mahnmal zu Mahnmal ablegte und sich untereinander was zu erzählen hatte. Ganz prima war das und deshalb hat die Veranstaltung auch `ne Stunde länger gedauert. Und zwei von denen haben mir besonders imponiert : Der ältere Mann, Typ Studienrat, „behütet“ mit einer schon sehr häufig getragenen wollenen Schirmmütze über eisgrauem Bart und goldgerahmter Ganzgesichtsbrille, also der, der ohne hellbraune Cordhose, buntkariertem Hemd, breite Hosenträger und graue Weste nicht vor die Tür geht. Wie der mit großer Ernsthaftigkeit und ohne Schlaumeierattitüde unsere Frau Klein mit Detailwissen ergänzte, ließ auf große Belesenheit schließen. Großer Respekt,auch der jüdischen Dame gegenüber, die ich mangels besserer Einsichten nur als edel bezeichnen kann. Unwichtig, dass sie sehr elegant gekleidet war, mich faszinierte ihr scheinbar immerwährendes Lächeln, auch dann, wenn sie an den Erinnerungsorten mit den an ihrem Volk verübten barbarischsten Verbrechen konfrontiert wurde. Ich stellte mich ab und zu neben sie und hörte ihr zu, wenn sie sich unterhielt. Ja, ich war ganz schön distanzlos und hoffe, dass sie es nicht bemerkt hat.

Erster Anlaufpunkt war das Mahnmal zur Erinnerung an die ermordeten Weseler Bürger jüdischen Glaubens. So heißt es wohl offiziell, deshalb soll es auch hier so stehen. Es wurde bewusst hinter dem Dom errichtet, erfuhren wir von Frau Klein, weil es auch mit der katholischen Kirche hinten rechts und der früher links gegenüber befindlichen Synagoge symbolisieren soll, dass es drei in Wesel vertretene Konfessionen gab. Das empfand ich als eine gute Idee und ebenso, dass es nicht versteckt wurde, dass zahlreiche Menschen, im Auto, auf dem Fahrrad, im Kinderwagen oder zu Fuß, es zumindest wahrnehmen müssen. Und zu >wahrnehmen< sei mir ein kleiner Link gestattet: In geschichtlichen Stätten stehen mit immer die Härchen hoch, hier kommen mir immer die Menschen nahe, insbesondere wenn sie Mord, Totschlag, Folter und anderes schlimmes Leid erfahren hatten. Es „nimmt mich immer mit“, zum Beispiel in Hohenschönhausen, nebenan in den Stelen, in Pompeji und im Kolosseum, wenngleich das Blut da schon längst getrocknet ist. Aber auch, wenn ich mitten in der Weseler Synagoge stehe, obwohl von ihr kein bisschen mehr da ist. Bei solchen und vielen anderen Erlebnissen geht`s mir empathisch über den Rücken. Vor einem Mahnmal stehend aber nicht, da versachliche ich, wofür es steht. Mahnmale sollen natürlich zum Nachdenken zwingen, aber sie geben nur einen „kurzen Bericht“, sie sind überfordert angesichts der fürchterlichen Geschehnisse, auf die sie nur noch hinweisen können. Das gilt natürlich auch für das in Wesel und es ist ja nur hilflos, wenn ich vorschlage, unter dem Hiob-Spruch („Meine Harfe ist eine Klage geworden, und meine Flöte ein Weinen“) noch so eine Steinplatte anzubringen: „Lieber Bürger, hast Du was dafür getan, dass sich solche Unmenschlichkeiten nicht wiederholen?“ In deutscher Schrift, nicht in hebräischer, versteht sich, ja ? Damit ist mein kleiner Diskurs beendet, er sollte nur aufzeigen, wie`s mir so geht, im Stelenfeld und vor einem Mahnmal.

Wie ging`s weiter? Mit der Historie über das Leben jüdischer Menschen in Wesel. Das passte jetzt, wir standen noch am Mahnmal, Frau Klein erzählte sehr informativ, zeigte uns sichthüllenummantelte Zeichnungen und Fotos von Sachen, die es meist nicht mehr gibt und erzählte uns aus etlichen Jahrhunderten historisches übers „Zusammenleben“. Da hatte das Stadtarchiv auch mitgeholfen, es wusste von ersten Ansiedlungen, im Mittelalter und später aber auch von durchgängigen Repressalien gegenüber jüdischen Familien und Kaufleuten. Letztere konnte man manchmal wohl gut gebrauchen, sie deckten Bedarf und von denen nahm man für gnädig gewährtes Aufenthaltsrecht gern erhöhte Steuern und eine Extragebühr von „acht schweren Gulden“. Und die Mittelalterschäubles waren sich beileibe nicht zu schade dafür, bei Vergehen durch jüdische Menschen hohe Geldstrafen zu verhängen, wovon ein Fünftel an den braven Deutschen ging, der die Untat der Obrigkeit pflichtgemäß mitteilte. Damit ging die angebliche Deliktkurve jüdischer „Täter“ steil nach oben, nicht so überraschend, schließlich war es der klare Auftrag zum Denunziantentum, die Judasse hatten Hochkonjunktur. Da brauchte Adolf später nur abzukucken, da musste nicht groß geübt werden. Zu seiner Zeit saßen die Denunzianten hinter vielen Fenstern und deren „Meldung“ führte die Opfer meist direkt zum Schafott.

Diese Geschichten führen bei mir sofort zu starken Hitzewallungen. Da brauche ich die widerlichen Episoden über Enteignungen, also wenn sich so ein „fürsorglicher“ Deutscher, auch in Wesel (ich nenn` die so gerne Neckermänner), ein Warenhaus für`n Appel und èn Ei oder noch weniger aneignete, eigentlich gar nicht mehr. Ich bin jetzt gut 70 und habe mir gut 70 Kilo Literatur über Repressionen, Verfolgung, Hass, Pogrome und versuchte Ausrottung eines ganzen Volkes „reingezogen“ und trotzdem nie verstanden: Warum ? Ersatzweise habe ich, sicherlich kein Menschenverächter, mir so eine Misanthropen-Kiste gebastelt. Da sind sie drin, die Täter, die Ignoranten, die Holocost-Leugner, die Denunzianten und auch diejenigen, die auf „die anderen, was die alle angestellt haben“ verweisen. Klar, mich stört die damit offensichtliche Unterstellung, Missetaten anderer Regimes unkritischer zu sehen oder Netanjahu nicht auch scheiße zu finden. Aber sie relativieren, sie sehen das als unentschieden, 1:1, fertig, Deckel drauf, Schluss mit Deutschen-bushing, es reicht jetzt mit ewiger Kritik. Leider nicht diskutabel…..

Frau Klein war nicht stehengeblieben, sie zeigte uns, wo jüdische Häuser standen, wo die „zu groß konzipierte“ jüdische Schule war ( zu viel Schulraum für sich stark reduzierenden Schülerbestand), die ehemals jüdische Konservenfabrik im Mühlenfeld, die sich „erlaubte“, den Bombenhagel zu überstehen, die Stolpersteine für die 9-köpfige Familie Baum, die, wenn ich richtig verstanden habe, „auf einen Schlag vom Opa bis zur jüngsten Enkelin deportiert wurde“ und die, 4 Tage „stehend eingepfercht“ ohne jede Nahrung, alle tot im KZ ankamen. Von solchen und ähnlichen Schicksalen erzählte sie uns und danach machte sie immer eine kleine Pause, zum Durchpusten. Das war gut, da schwatzte auch keiner dazwischen. Sie bedauerte die noch viel zu geringe Anzahl an Stolpersteinen, auch im Gedenken an die vor sicherem Tod geflohenen Emigrierten, die viel für Wesel geleistet und hinterlassen hatten und auch, dass ein alle Opfer umfassendes Gedenken sehr schwierig ist, da wichtige Unterlagen im Zweiten Weltkrieg vernichtet wurden.

Um die Ecke ging`s, zur Rheinstraße 6, durch eine Durchfahrt auf den Innenhof. Garagen und gewerbliches war zu erkennen. Hier stand sehr lange die Synagoge, sie wurde wie so viele andere in der Pogromnacht am 9.November 1938 angezündet. Aus Gründen der Anonymität vermutlich von SA-Leuten aus Emmerich, die SA-Schergen aus Wesel halfen dafür andernorts aus. Die Mauerreste mussten noch ein Weilchen als statische Hilfe für benachbarte Privathäuser stehen bleiben, weil die sonst umgefallen wären. Für Kahlschlag sorgten später alliierte Bomben, heute ist natürlich alles überbaut. Trotzdem ein seltsames Gefühl, mitten in einer Synagoge zu stehen, von der aber auch gar nichts mehr da ist. Nur noch ein schmuckloses Schild auf der Hofseite erzählt, was da mal war.

Nur ein paar Meter weiter wurde es großflächiger, wir kamen zur Esplanade. Und Frau Klein nutzte das für einen geschichtlichen side-kick zur Weseler Stadtgeschichte. Ich war begeistert, ich hab` heute mehr über Wesel gelernt als in Summe vorher. Was der Napoleon alles so angestellt hatte, wie der die viel zu engen Stadttore, die den Handel in Wesel entscheidend erstickten, wegräumen ließ, das Anlegen von Friedhöfen rund um Kirchen unterband, ja von sowas hab ich doch noch gar nichts gehört. Also zu meiner Entlastung: Wenn der Herr Napoleon in Oberhausen sein Unwesen getrieben hätte, da wüsste ich aber alles drüber. Zurück zu Frau Klein und der Esplanade: Sie hat`s quasi verrissen, so groß war ihre Begeisterung, uns die Sinngebung dieser Fläche zu vermitteln. Die hatte nämlich die Aufgabenstellung, unbebaut freie Sicht auf ungebetene Eindringlinge zu bieten und damit auch über freies Schussfeld zu verfügen. Was böswillige und aggressive Menschen alles so tun, dachte ich, bis mir einfiel, dass ich zu Hause zur Früherkennung von unerwünschten Verwandten, Nachbarn und dem Briefträger meine Lorbeerhecken auf Sichthöhe gestutzt hatte. Nach neuerer Gesetzgebung darf ich zwar nicht auf die schießen, aber ich mach` auch nicht auf, wenn die klingeln. Dass mit dem Schießen war nach 1945 auf der Esplanade auch nicht mehr vorrangig. Angesichts der riesigen, nicht aufräumbar erscheinenden Trümmerberge bebaute man die Fläche erstmals. Mit vergleichbar günstigeren Erschließungsmöglichkeiten (nicht Erschießungsmöglichkeiten, hier rettet ein Buchstabe tausende Menschenleben). Wohnungsbau vor Sichtfeld und Schießfeld, eine pazifistische Sichtweise.

Nun wird`s Zeit, dass wir zum jüdischen Friedhof kommen, dem kleinen an der Esplanade. Vorab gestehe ich fröhlich, dass ich alles, was ich jetzt beschreibe, vorher nicht gewusst habe. Ganz schön schwach, aber auch nicht alle Weseler wissen, dass der im 17. Jahrhundert die erste Belegung hatte und das letzte Begräbnis wohl um 1892 stattfand.

Der Friedhof ist nach dem Kriege von der Stadt übernommen worden, ist von privaten Grundstücken umschlossen und auch nur über ein solches erreichbar. Man hört, dass eine nette Dame dies gestattet, möge sie sehr lange leben. Er hat einen fast intimen Charakter, so rechteckig und klein, ist locker mit Bäumen bepflanzt, begrenzt von Mauern und Hecken, die uns jetzt auch einschlossen. Die Stadt kümmert sich um die Pflege. Des Friedhofs natürlich. Wie wahllos stehen die Grabsteine da, es sollen nur noch 26 an der Zahl sein, die man gefunden und aufgerichtet hat, der älteste ist von 1793. Ich hatte Novembersonne bestellt, sie schien schräg durch die Äste der Bäume auf das abgefallene Laub, das dadurch auf dem grünen Gras wie Blattgold aussah. Die Stimmung nahmen wir still auf, Frau Klein ließ das wirken, bevor sie uns von jüdischen Bestattungsritualen Kunde gab. So auch, dass die jüdischen Friedhöfe als Haus des Lebens ausgerichtet sind, nicht der Trauer dienen sollen, was sich auch darin ausdrücken soll, dass keine Blumen und Kränze abgelegt werden. Das Grab ist zeitlos, ewig. Es gibt keine Umbettung, keine Neubelegung, was steht, bleibt stehen. Ich habe mir die Frage verkniffen, was die Folge von mutwilliger Zerstörung wäre.Dass Besucher einen Stein ablegen, ist Tradition, vielleicht daher rührend, dass man früher viele Steine über ein Grab deckte, um den Leichnam vor wilden Tieren zu schützen, da die Toten nur in Tücher gehüllt begraben wurden. Der obenerwähnte „Studienrat“ konnte so einiges zur Wissenserweiterung beitragen. Dem Leichnam, so erklärte er, würde die persönliche Thora beigelegt, er wusste um die Betonung auf dem > a < und auch, dass erwartet wurde, dass diese ganz schön abgenutzt zu sein hatte, nach lebenslanger Nutzung. Mit welchem Charme der das erklärte, es war ganz wunderbar.

Ein Kapitelchen für sich sind die Grabsteine. Sie enthalten nie das Geburtsjahr, wohl aber das Sterbejahr. Den hebräischen Inschriften sind meist Hinweise auf die Abstammung (Sohn des Samuel etwa….) zu entnehmen, auch auf gute Charaktereigenschaften, manchmal auch Lebenslaufdetails, die Rückschlüsse auf das Geburtsjahr zulassen. Einige Abstammungssymbole beschreiben die berufliche Ausrichtung, segnende Hände deuten auf einen Priester hin. Wenn Sie, lieber Leser, dass jetzt nicht für so schwer erratbar gehalten haben, häng` ich mal dran, dass diese aus den aaronischen Priestergeschlechtern stammen. Da staunen se, was ? Und ich weiß noch was: Wenn auf Sockel oder Giebel des Grabsteins eine Kanne eingesteinmetzt ist, dann war das ein Levit. Leviten waren in Tempeln für die kultische Reinheit zuständig und wuschen mit Hilfe der Kanne den Priestern vor dem Opferkult die Hände. Jetzt habe ich Ihnen ganz schön oberlehrerhaft die Leviten gelesen, oder ? Und dass nur Vornamen erkennbar waren, hat den Napoleon gestört, was zu der Verordnung führte, dass sich die Juden einen Nachnamen geben mussten. Dazu wünsche ich mir einen Oberlehrer, der mir später darüber mal mehr erzählt. Heute bin ich hier auf dem Hof schwer beeindruckt worden.

Beim Verlassen des Friedhofes hat eine Frau das erste Foto überhaupt während dieses Rundganges gemacht. Das sagt einiges aus, wir waren alle erstaunt, dass augenscheinlich dafür kein Bedürfnis da war. Man sprach jetzt erstmals miteinander, auf dem Rückweg bildeten sich lockere Quasselgrüppchen, deutliche Entspannung, man wollte jetzt auch mal austauschen. Frau Klein rundete auf dem Leyensplatz „den jüdischen Teil“ ab, wir waren nicht „zu satt“, um ihrer Schilderung über die Architektur mit hochmoderner Glasfassade des Kaufhauses Zaudy in der Brückstraße und ihrer Bewunderung über das Wirken von Frau Brandenstein –Zaudy nicht zuhören zu wollen, der Wesel architektonisch und kulturell wohl viel zu verdanken hat. Zum Andenken an diese Dame, über die sie viel erzählen konnte, die durch frühen Krebstod im Gegensatz zu ihrer Familie nicht mehr die schlimmen Übergriffe in der Pogromnacht miterlebte, sollte vor deren ehemaligem Haus in der Luisen-/Flemmingstraße ebenfalls ein Stolperstein ins Pflaster eingelegt werden, regte Frau Klein fast trotzig an. Das fanden wir alle dann auch, selbst ich, der vorher noch nichts über Frau Brandenstein-Zaudy gehört hatte. „Mein“ Stolperstein, für dessen Kosten ich schon so lange aufkommen will, soll allerdings dem Gedenken für ein ganz und gar nicht berühmtes jüdisches Kind dienen. Und das muss ich jetzt mal langsam auf die Kette kriegen, ich schlappe Taube.