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Am 1. April 1923 findet das hochverräterische "Unternehmen Wesel" während des Ruhrkampfes statt

Als die nach dem Ersten Weltkrieg eingesetzte alliierte Reparationskommission Ende Dezember 1922 einen Rückstand deutscher Reparationen an Frankreich feststellte, bot dies im Januar 1923 den Vorwand für den Einmarsch von fünf französischen Divisionen und einigen belgischen Einheiten ins Ruhrgebiet. So lag plötzlich am nördlichen Lippeufer – in der Nähe des Lippeschlößchens – die Grenze zwischen dem besetzten Ruhrgebiet und dem unbesetzten Deutschland.

Am 1. April sind an dieser Grenze sechs Güterwagons und eine Lokomotive entgleist. Davon hat in Wesel kaum jemand Notiz genommen. So berichteten die Niederrheinischen Neusten Nachrichten nur knapp über das Ereignis, bei dem niemand verletzt worden sei. Die wahren Hintergründe vom später sogenannten „Unternehmen Wesel“ blieben lange Jahre unbekannt und sind erst in der NS-Zeit durch einen Beteiligten im Detail enthüllt worden.

Die Eisenbahnbrücke über die Lippe war Ort einer geheimen paramilitärischen Aktion, aus der sich ein neuerlicher europäischer Krieg entwickeln sollte. Die Kernkomponente des Unternehmens entsprach dabei noch vollauf dem von der deutschen Reichsregierung angeordneten passiven Widerstand. Da die Ausfuhr deutscher Industriegüter aus den besetzten Gebieten verboten war, entstanden schnell Sabotagepläne zur Ausfuhr dieser Güter ins unbesetzte Reichsgebiet.

Das Besondere am „Unternehmen Wesel“ war aber die parallel verlaufende militärische Operation. Die Reichswehrführung wollte über den passiven Widerstand hinaus eine aktive Erhebung des gesamten deutschen Volkes in den besetzten Gebieten erreichen. Es ging also darum, vereinzelte und unkoordinierte Sabotageakte zu unterbinden und diese stattdessen zentral zu lenken. Ende Januar 1923 installierte man dafür im Ruhrgebiet mit Kurt Jahnke (1882–1950) eine der ominösesten Figuren der nachrichtendienstlichen Welt des 20. Jahrhunderts. Jahnkes Vertreter in Münster war ein gewisser Arnold Aulike des radikal-völkischen Westfalentreubunds, der einerseits Verbindungen zu den – teil untereinander verfeindeten – illegalen Wehrverbänden unterhielt und andererseits mit dem für die Provinzen Hannover, Rheinland und Westfalen zuständigen Wehrkreiskommando VI in Münster kooperierte. Jahnke warb außerdem für die planmäßige Sabotage in diesem Gebiet den späteren Obersten SA-Führer Franz Pfeffer von Salomon (1888–1968), der fortan als Leiter der „Zentrale Nord“ in Münster firmierte.

Vorbesprechungen für das „Unternehmen Wesel“ fanden ab Anfang März 1923 in Münster statt. In einem Café trafen sich Mitglieder des Westfalentreubunds und erfuhren von einer geheimen Aktion, die unter der Führung Pfeffer von Salomons ablaufen sollte. Unter den anwesenden Männern war auch der aus Wesel stammende Weltkriegsoffizier Jansen, der mittlerweile in Münster studierte, dessen elterlicher Hof aber in direkter Nähe der neuen Grenze gelegen haben muss. Der als ortskundiger Führer fungierende Jansen war es auch, der 1938 die Details der Aktion in einem Propagandabuch veröffentlichte.

Die Züge mit Industriegütern auf zunächst geplanten etwa eintausend Waggons sollten bei Friedrichsfeld die Grenze durchbrechen. Die Planer reduzierten die vorgesehene Menge aber um mehr als die Hälfte. Man entschied sich für die Strecke Oberhausen–Wesel, denn die beteiligten Industriebetriebe lagen an der Strecke, die Organisatoren hatten Erfahrung mit der Blockadebrechung auf diesem Abschnitt und außerdem war die Strecke zweigleisig, sodass nicht acht Züge hintereinander, sondern je vier paarweise fahren konnten.

Die Zentrale Nord weitete die als militärische Sicherungsmaßnahme für die beteiligten deutschen Eisenbahner propagierte Aktion aber entscheidend aus. Es sollten Kampfhandlungen mit den belgischen Besatzern provoziert werden. Über mehrere solche Terrorakte an den Grenzen des besetzten Gebietes wollte man wiederum mehr alliierte Militärpräsenz erzwingen. Der Zentrale Nord schwebte also die Entfesselung einer Gewaltspirale vor. Rücksicht auf alliierte Besatzer sollte nicht genommen werden. Repressalien gegen deutsche Zivilisten sind bewusst einkalkuliert worden.

In der Nacht vom 30. auf den 31. März fuhr schließlich aus Münster kommend ein Zug mit schwer bewaffneten Paramilitärs nach Wesel. Diese etwa dreihundert Männer sollten das gesamte Gebiet zwischen Friedrichsfeld und der Lippebrücke besetzen und sichern, um so von Wesel aus einen Brückenkopf im besetzten Gebiet zu schaffen. Die nur notdürftig als Gesangsverein getarnte Kampfgruppe sammelte sich am Nachmittag des 31. März am Weseler Güterbahnhof, fuhr in einem Güterzug nach Blumenkamp weiter und erreichte schließlich bei Einbruch der Dunkelheit die Lippe. Infolge von Hochwasser und einer aufgrund ausgebliebener Materiallieferung nur improvisierten Steganlage gelang allerdings die Übersetzung der Kampfverbände und ihrer Ausrüstung nur sehr eingeschränkt.

Parallel sammelten sich am 31. März abends im besetzten Dinslaken drei dort schon stehende Züge mit fünf Zügen, die von einem zu Thyssen gehörenden Industriegelände in Hamborn kamen. Unangemeldet hatte zudem Krupp noch einen neunten Zug geschickt. Mit Hilfe von über sechzig Eisenbahnern gelang am 1. April um 1 Uhr nachts die Abfahrt gen Wesel.

Es galt nun drei kritische Punkte zu überwinden. Das Durchfahren des Bahnhofes Friedrichsfeld gelang – vorbei an einer Kompagnie verdutzter belgischer Soldaten – ebenso problemlos wie die Passage eines bewachten Stellwerks mit sieben belgischen Soldaten knapp vor der Lippebrücke. Hier sollten unbekannte Züge eigentlich auf ein totes Gleich gelotst wurden, aber die belgischen Besatzer verhielten sich widererwarten völlig passiv.

Auf der Lippebrücke kollidierte die Ladung des sechsten Zuges dann mit einem Brückenpfeiler, da in Dinslaken aufgrund der Enge durch den unangemeldeten neunten Zug die Waggons nicht korrekt – also die schweren Waggons vorne und die leichten hinten – gereiht werden konnten. Dreißig Wagen des hinteren Zugteils blieben auf der Brücke stehen, sodass der folgende achte Zug fast ungebremst auf diesen auffuhr, wobei sechs Waggons entgleisten. Den Belgiern fielen so der achte Zug und sechs Waggons des sechsten Zuges in die Hände, die anderen 350 Waggons gelangten ins unbesetzte Gebiet.

Die deutschen Wehrverbände warteten das erfolgreiche Passieren der ausbrechenden Züge in Friedrichsfeld noch ab und zogen sich dann umgehend wieder über die Lippe zurück, weil man mit nur halber Sollstärke und ohne schwere Waffen die Konfrontation mit der alliierten Wachmannschaft an der Lippebrücke sowie mit den im Lippeschlößchen einquartierten weiteren zweihundert Besatzungssoldaten scheute. Das Fanal zum Krieg war somit eher zufällig und auch aufgrund der nicht erwarteten völligen Passivität der Belgier ausgeblieben.

Die militärische Komponente – von Jahnke finanziert, von Pfeffer von Salomon erdacht und von allerlei rechtsextrem Wehrverbände durchgeführt – des „Unternehmens Wesel“ war der Höhepunkt der Versuche, den passiven Widerstands in einen neuerlichen europäischen Krieg übergehen zu lassen. Das Weseler Unternehmen ist von seiner Grundgestaltung her auch typisch für den gesamten Ruhrkampf des Jahres 1923. Die Eisenbahner, die das größte Risiko trugen, waren über die wahren Absichten nicht informiert worden. Die militärische und politische Zielsetzung diktierte die Reichswehr über inoffizielle Mitarbeiter bei rechten Wehrverbänden, die man im Falle eines öffentlichkeitswirksamen Scheiterns wie Bauern auf dem Schachbrett hätte opfern können. Die Hauptprofiteure waren schlussendlich die deutschen Großindustriellen um Thyssen und Krupp.

(Autor: Dr. Heiko Suhr)

Abbildung: Die militärisch gesicherte Eisenbahnbrücke über die Lippe (1920er Jahre) (StAW O1a, 1-1-12-2_01)