Scrollpfeil

Am 25. Mai 1914 eröffnet die Kleinbahnstrecke Wesel–Rees

Über viele Jahrhunderte galt der Postwagen als das übliche und nahezu einzige Verkehrsmittel auf dem Landweg. Erst 1835 begann mit dem Aufkommen der Eisenbahn eine entscheidende Wende. Da die Bahngesellschaften aber vor allem wirtschaftliche Gewinne erzielen wollten, wurden zunächst die gerade entstehenden Industriezentren an das Streckennetz angeschlossen. Der preußische Staat unterband zudem bis 1870/1871 einen intensiven Streckenbau in seinen Westprovinzen, um linksrheinische Anlagen im Kriegsfall nicht der französischen Armee in die Hände zu spielen. Erst nach der Reichsgründung kam allmählich der Bau von Kleinbahnen – Bahnen mit kleinem Streckennetz und geringerer Baugröße – zur Stärkung von Landwirtschaft und Kleingewerbe auf die Agenda.

In Wesel entstand 1908 der Plan, die Stadt durch Personen- und Güterverkehr mit den rechtsrheinischen Dörfern über Rees bis nach Emmerich zu verbinden. Zwei Jahre später beschloss der Kreis Rees den Bau einer elektrischen Kleinbahn und übertrug dafür Errichtung und Pacht an das RWE (Rheinisch-Westfälisches Elektrizitätswerk). Der Essener Konzern engagierte sich im Kleinbahnverkehr, um für die noch relativ neue elektrische Stromversorgung Werbung zu betreiben und um so in den jeweiligen Städten das Vorrecht für die Stromversorgung zu erlangen. Die preußische Regierung erteilte am 5. August 1912 die Konzession für die Strecke zwischen Wesel und Rees. Es sollte eine typische Niederrhein-Kleinbahn gebaut werden, also ein eingleisiger Bahnkörper mit Ausweichen und Gittermasten zur Stromversorgung. Verwaltungsgebäude, Güterschuppen und ein fünfgleisiges Depot befanden sich in Rees.

Nach einer vorangegangenen gründlichen Überprüfung durch die Dienststellen der Landespolizei wurde die Schmalspur-Strecke zwischen Wesel und Rees am 25. Mai 1914 der Öffentlichkeit übergeben. Ein Redakteur der Niederrheinischen Neusten Nachrichten berichtete, dass die Bahn nach vorangegangenen Schwierigkeiten „ohne Sang und Klang“ problemlos in Wesel angekommen sei. Niemand habe zwar am Tag der Eröffnung mit einer funktionierenden Bahn gerechnet, trotzdem sei die erste Fahrt – 26 Sitzplätze, 24 Stehplätze – restlos ausverkauft gewesen. Noch über fünfzig Jahre später erinnerte sich der damals extra ausgebildete Schaffner Otto Verhoeven, wie die Bahn förmlich von Fahrgästen überrannt wurde. Allein am ersten Tag wurden 632 Personen befördert. Die „bequeme und nette“ Ausstattung und das „gefällige“ Äußere der Bahn fanden das wohlwollende Lob der ersten Reisenden. Es ging u.a. an den Diersfordter Wäldern, an Wiesen und Äckern vorbei durch eine idyllische Landschaft. Dabei erkannte der mitfahrende Redakteur „den Reiz der Neuheit dieser Fahrt“ in den Gesichtern aller Fahrgäste. Besonders erwähnenswert ist die zweisprachig – deutsch und niederländisch – angebrachte Warnung, in den Waggons das strikte Rauchverbot einzuhalten.

Ein entscheidender Nachteil war aber, dass es in Wesel nicht gelang, eine Genehmigung für die Querung der preußischen Staatsbahn zu erlangen, so dass der Kleinbahnhof etwa zwanzig Fußminuten außerhalb des Stadtzentrums lag.

Der durch den Ersten Weltkrieg bedingte Kupfermangel verhinderte die Fertigstellung der Kleinbahn bis Emmerich. Erst im November 1919 wurde die Strecke bis Vrasselt elektrifiziert, bis zur Fertigstellung der gesamten Strecke bis Emmerich sollte es noch bis zum Mai 1921 dauern. Die Fahrtzeit für die insgesamt rund vierzig Kilometer betrug 110 Minuten inklusive einer Betriebspause in Rees. 1921 verkehrte die Kleinbahn werktags stündlich zwischen sechs und 21 Uhr, wofür zwei zweiachsige Elloks und zehn vierfenstrige Straßenbahn-Triebwagen mit neun Beiwagen eingesetzt wurden. Für den Güterverkehr standen zwei geschlossene Güterwagen, ein Kesselwagen, ein Post- und Packwagen sowie drei Arbeitsfahrzeuge zur Verfügung. Der Güterverkehr wurde dabei mit Rollböcken durchgeführt, auf welchen die normalspurigen Güterwagen befördert werden konnten. An diesem Ausgangszustand änderte sich bis 1945 nichts Wesentliches.

Da im Zweiten Weltkrieg sowohl das Streckennetz als auch der Fuhrpark der Kleinbahn einen Totalschaden erlitten, lag auch der lokale Nahverkehr zunächst still. Aber schon am 8. Juni 1951 konnte die Wiedereröffnung der Strecke von Wesel nach Rees gefeiert werden. Es gelang sogar, den wohl größten Strukturfehler von 1914 zu überwinden und die Genehmigung zur Querung der durch den Krieg zerstörten Reichsbahngleise zu erhalten. Auf zwei zusätzlichen Kilometern im Straßenpflaster konnte man zum Bahnhofsvorplatz am Kaiserplatz gelangen.

Die Kleinbahn blieb trotz steigender Bedeutung des Individualverkehrs ein beliebtes Verkehrsmittel. Dennoch beschloss der Reeser Kreistag nach intensiven Diskussionen im Februar 1966 die endgültige Stilllegung der defizitären Kleinbahn. Dies geschah, obwohl die Beförderungszahlen nach wie vor im Steigen begriffen waren. Die RWB, eigentlich bis 1976 trotz Verlusten vertraglich zur Fortführung der Kleinbahn gezwungen, wurde nach Zahlung einer Entschädigung in Millionenhöhe an den Kreis aus dem Pachtvertrag entlassen.

Der letzte Personenzug der im Volksmund auch „sausender Wald- und Wiesen-Express“ genannten Kleinbahn fuhr in der Nacht zum 1. Mai 1966 nach Wesel, der letzte Güterzug verkehrte am 1. Dezember 1966 zwischen Rees und Empel. Es hieß lapidar, dass das romantische Bedauern über die Stilllegung der Kleinbahn rationellen Überlegungen habe weichen müssen.

(Autor: Dr. Heiko Suhr)

Abbildung: Eröffnungsfeier am 25. Mai 1914 im Betriebsbahnhof Rees (Stadtarchiv Rees, Kleinbahn Eröffnung 1914, A53a2)