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Wunder aus Trümmern

Wesel - zukunftsorientierte Stadt

Mobilität und Infrastruktur

Nach der Eroberung Wesels durch die Alliierten im März 1945 war fast neunzig Prozent des Weseler Straßennetzes unbrauchbar. Die zerstörten Straßenflächen beliefen sich dabei auf eine Länge von 85 Kilometern, was in etwa der Strecke von Wesel nach Leverkusen entspricht. Wesels Innenstadt und die dazugehörigen Straßen waren nahezu vollständig von Trümmermassen bedeckt.

Der Wiederaufbau Wesels war auch mit einer konzeptionellen Neuentwicklung der Infrastruktur verbunden. Stadtdirektor Reuber sah sich auch hier in der Pflicht, den Weg zu ebnen für eine an moderne städtebauliche und verkehrstechnische Erfordernisse angepasste Stadt.

Neben der Hohen Straße als Sinnbild für Wesels Wiederaufstieg zu einer bedeutenden Einkaufsstadt am Niederrhein ist aus industrieller Perspektive vor allem der Rhein-Lippe-Hafen zu nennen, über den sich Politik und Verwaltung auch im übertragenen Sinn einen Anschluss an die gesamte Republik erhofften.

Die sogenannten Wirtschaftswunderjahre in Wesel sind aber vor allem gekennzeichnet durch eine stetig gewachsene Mobilität der Weseler Bevölkerung. Die Fotos zeigen gerade in der Innenstadt ein Nebeneinander von Kleinbahn, Bussen, Autos, Fahrrädern und Fußgängern. Gerade der VW Käfer galt als Symbol dieser Entwicklung. Viele Zeitzeugen erinnern sich aber daran, dass Autos noch als Luxus galten und selbst Fahrräder so teuer waren, dass man lange dafür sparen musste.

Daher galt auch die Bahn – neben dem Fahrrad – als wichtigstes Verkehrsmittel dieser Generation. Nur so kann man verstehen, dass die Weseler Presse die feierliche Einweihung des neuen Bahnhofgebäudes im Juli 1955 überschwänglich mit der Schlagzeile „Ein Traum von Generationen ging in Erfüllung“ betitelte.

Ablesbar ist daran auch ein positiver Bedeutungswandel des Begriffs „Mobilität“. Verband man damit bisher eher Flucht und Vertreibung, stand der Begriff nun für die wiedergewonnene individuelle Freiheit.

Der Motor des Wiederaufbaus – Dr. Karl-Heinz Reuber (1906-1982)

„Reuber ist der sprichwörtlich von Bohnenkaffee aufgepulverte Motor seiner Stadt“

NRZ 1956 über Reuber

Wohl keine andere Persönlichkeit ist so eng mit dem Wiederaufbau Wesels nach der fast vollständigen Zerstörung am Ende des Zweiten Weltkrieges verbunden wie die des Stadtdirektors Dr. Karl-Heinz Reuber.

Der am 15. Februar 1906 in Bergneustadt geborene Reuber begann 1927 ein Studium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Universität Köln, das er mit der Promotion im Februar 1932 beendete.

Im Mai 1933 trat Reuber eine erste Stelle als Kämmerer der Stadt Papenburg im Emsland an, wurde aber kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zur Wehrmacht eingezogen. Nach Kriegsende geriet er in sowjetische Kriegsgefangenschaft, aus der er erst nach knapp vier Jahren nach Papenburg zurückkehrte und sein altes Amt wiederaufnahm.

Nach einer hohen Fluktuation im Amt des Stadtdirektors war es ein Ziel der Stadt Wesel, über personelle Kontinuität den Wiederaufbau der Stadt zu systematisieren. Unter den insgesamt 95 Bewerbungen fiel die von Dr. Reuber sofort positiv auf, sodass er im April 1950 durch die Stadtvertreter-Versammlung zum Stadtdirektor gewählt wurde.

In der zwanzigjährigen Amtszeit von Dr. Reuber wuchs die Weseler Bevölkerung von 17.000 auf 36.000, die Zahl der Arbeitsplätze von 6.500 auf 15.600 und der Wohnraumbestand von 2.600 auf 12.000.

Es ist vor allem diesem Stadtdirektor zu verdanken, dass der industrielle, infrastrukturelle und kulturelle Wiederaufbau Wesels mit Mut und Risiko auf völlig neuer Grundlage bewerkstelligt werden konnte.

Stadtdirektor Reuber wurde im November 1970 feierlich im Weseler Rathaus verabschiedet. Sein ihm damals verliehener Ehrenring ist seit 2010 hier in der Schatzkammer des Städtischen Museums zu sehen.

Am 24. Mai 1982 verstarb Dr. Karl-Heinz Reuber 76-jährig im Weseler evangelischen Krankenhaus und wurde wenig später auf dem Friedhof „Am Langen Reck“ in einem Ehrengrab beigesetzt.

Stadtdirektor Dr. Karl-Heinz Reuber - Auch privat immer im Dienst

Obwohl der Name des Stadtdirektors Karl-Heinz Reuber bis heute in Wesel allgegenwärtig ist, viele Anekdoten über ihn kursieren und manch einer sich lebhaft erinnert, ist über sein Privatleben und seine individuelle Persönlichkeit wenig bekannt.

Familiär fand der damalige Stadtkämmerer von Papenburg sein Glück im Emsland. 1936 heiratete er dort Heinrike Austermann, mit der er vier Kinder – geboren zwischen 1937 und 1950 – hatte.

Nach seiner im April 1950 erfolgten Ernennung zum Stadtdirektor in Wesel zog Reuber kurzfristig und allein von Papenburg in seine neue Heimat um. Hier fand er zunächst Quartier in einer kleinen Wohnung in der Hohen Straße. Im Mai 1950 kam in Papenburg schließlich das vierte Kind der Eheleute Reuber zur Welt. So konnte die Familie im Oktober 1950 in Wesel ihre Wiedervereinigung feiern und bald danach eine städtische Dienstwohnung am Herzogenring beziehen.

Viele Zeitzeugen berichten, wie Dr. Reuber nach Feierabend seine Mitarbeiter zu weiteren Besprechungen im Hotel Kaiserhof geradezu nötigte. Auch seine Ehefrau beklagte sich innerhalb der Familie, dass ihr Ehemann nicht mit ihr, sondern mit der Stadt Wesel verheiratet sei. Freizeit kannte der Stadtdirektor nicht und wenn er abends ausnahmsweise nicht auch zu Hause noch am Schreibtisch saß, dann fand er Entspannung beim ausdauernden Legen von Patiencen oder beim geduldigen Basteln von Fotoalben mit Motiven seiner Stadt.

Seinen Ruhestand ab Anfang Januar 1971 verlebte Reuber endlich auch als aktives Oberhaupt seiner Familie im neuen Haus am Westglacis.

Der berufliche Erfolg des Stadtdirektors beruhte neben einem ungeheuren Arbeitspensum auch auf engen Freundschaften wie zum Weseler Bundestagsabgeordneten Franz Etzel. Er wurde bald zum gefürchteten „Räuber“, der es meisterhaft verstand, alle verfügbaren Geldtöpfe für seine Weseler Heimat zu vereinnahmen.

Seine eigene Wahrnehmung beschreibt ihn wohl ganz gut: „Ich war kein bequemer Mann“.

Theorie des Wiederaufbaus - Das Gutachten von Professor Alfons Schmitt

Professor Alfons Schmitt

Stadtdirektor Dr. Karl-Heinz Reuber erkannte bald nach seinem Amtsantritt im April 1950, dass eine risikoarme Bearbeitung von Teilaufgaben der Wirtschaftsförderung nicht die Lösung der wirtschaftlichen Probleme der Stadt Wesel sein konnte. Er regte daher eine fundierte Expertise einer unabhängigen Instanz an. Das Ergebnis war das Gutachten über die „wirtschaftlichen Grundlagen des Rhein-Lippe-Gebietes um Wesel“. Verantwortlich für das Grundsatzpapier war Professor Alfons Schmitt von der Universität Münster.

Die Studie von Schmitt beginnt gleich mit einem Kernsatz: „Wesel ist gezwungen, sich unter dem Druck der Verhältnisse eine neue Wirtschaftsstruktur zu geben.“ Dazu könne man aber nicht die Entwicklung nur „laufenlassen“, sondern müsse „aktiv fördernd“ eingreifen, um die „natürlichen Gegebenheiten zu aktivieren“.

Der Grundtenor des Gutachtens war also die Forderung nach einer aktiven Wirtschaftsförderungspolitik. Dazu dachte Schmitt vor allem an eine erhebliche industrielle Ausweitung. Reuber war sich aber bewusst, dass die so skizzierte Industrieanwerbung einhergehen musste mit Förderungsmaßnahmen im Bereich der Infrastruktur, des Wohnungsbaus und der Kulturarbeit.

Der Dienstantritt von Stadtdirektor Dr. Reuber und das Gutachten von Prof. Schmitt stehen symbolisch für eine Systematisierung der Wirtschaftsförderung in Wesel bei ganz klarer Fokussierung auf Industrieanwerbung.

Zur Biografie von Professor Alfons Schmitt

Verantwortlich für das Gutachten war Prof. Alfons Schmitt, der am 21. Juli 1903 in Lorch/Württemberg geboren wurde. Nach einem Studium der Staatswissenschaften an den Universitäten Tübingen und München wurde er im Juni 1927 promoviert.

Zunächst war Schmitt ein Jahr im Zentralbüro der deutschen Binnenschiffahrt tätig. Anschließend begann er seine akademische Laufbahn als Schüler von Adolf Weber, dessen wirtschaftspolitischen Entwürfe die Neuordnung der BRD nach 1945 prägten. Nach seiner Habilitation 1931 war er bis 1939 Lehrstuhlinhaber in Jena und wechselte dann nach Münster, wo er Mitdirektor des Instituts für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften wurde.

Nach einer militärischen Zwangspause von 1943 an wurde er ab Kriegsende 1945 wieder akademisch in Münster tätig. Dort begründete er das Institut für Verkehrswissenschaft, an dem das Gutachten für die Stadt Wesel entstand. Im April 1952 folgte Schmitt einem Ruf an die Universität Freiburg, wo er dem Institut für Regionalpolitik und Verkehrswissenschaft bis zu seinem Tod am 5. März 1960 vorstand.

Der Rhein-Lippe-Hafen als Herzstück der Industrialisierung

Eine weitere Erfolgsgeschichte der Aufbaujahre war der Weseler Hafen. Pläne zum Bau eines Industriehafens im Mündungsgebiet der Lippe zwischen Wesel und Emmelsum gab es bereits seit 1906.

Stadtdirektor Dr. Reuber sah den Hafen als Kernbaustein der Industrialisierung Wesels an, denn schon das Gutachten von Professor Schmitt (Universität Münster) kam zu dem Schluss, dass Wesels Winkellage zwischen Rhein und Lippe wirtschaftlich ausgenutzt werden muss.

Schon 1952 fanden sich die Stadt Wesel, die Landkreise Rees und Dinslaken und die Gemeinde Voerde zu einer Hafen-Arbeitsgemeinschaft zusammen. Es galt zunächst, die Finanzierung des Großprojekts sicherzustellen. Antrieb gab der Wunsch der Gelsenberg Benzin AG, sich in Wesel niederzulassen, um Rohöl aus Rotterdam auf Rheintankern bis nach Wesel und schließlich von dort über eine Pipeline bis nach Gelsenkirchen zur Weiterbearbeitung bei Gelsenberg zu schaffen.

Die städtischen Akten dokumentieren im September 1956 ein „starkes Interesse“ der Gelsenkirchener Firma. Problematisch gestaltete sich aber der dazu notwendige Landerwerb vom Land NRW, der erst nach zähen Verhandlungen im März 1957 durch einen Düsseldorfer Kabinettsbeschluss ermöglicht wurde. Im April 1957 konnten dann die Verträge mit Gelsenberg unterzeichnet und der erste Bauabschnitt des Weseler Industriehafens begonnen werden.

In einer Rekordbauzeit von nur 180 Tagen entstand das Projekt als erster derartiger Ölumschlaghafen der Bundesrepublik und wurde im November 1957 in Betrieb genommen. Die Gelsenberg AG stellte zwar aufgrund einer konkurrierenden Pipeline schon im Juli 1960 den Betrieb ihres Ölhafens ein, aber das Produktionsgelände wurde von der Benzin- und Petroleum AG (BP) aus Hamburg übernommen.

Der Hafen – mittlerweile mit zwei anderen öffentlichen Hafengebieten Wesels aufgegangen in der DeltaPort GmbH – kann daher bis heute als Erfolgsprojekt bezeichnet werden.