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Die Bauherrin Margarete Zaudy und ihr Geschäftshaus in der Brückstraße 14 in Wesel*

Herausgeber: Stadt Wesel, Volker Kocks

Quelle: Stadt Wesel

DIE FIRMA ZAUDY IM 19. JAHRHUNDERT

Die Familie Zaudy betrieb in Wesel seit 1815 ein Schmiede-Geschäft und 1873, zwei Jahre nach der  Proklamation des Deutschen Reiches durch Bismarck im Spiegelsaal von Versailles, bezeichnete sich die Firma als Eisenwaren-Fabrik. Zu ihren Spezialitäten gehörten nach eigenen Angaben schmiedeeiserne Fenster, Bedachungen, Treibhäuser, Verandas, Perronhallen und eiserne Bettstellen nebst Zubehör. Dazu kam noch ein Handel mit Eisenwaren wie Öfen, Koch-, und Nähmaschinen.1

Lageplan der Grundstücke Brückstraße/Schmidtstraße der
Familie Zaudy, 1892, Quelle: Stadt Wesel

Die Fabrik ‒ oder besser gesagt Werkstatt ‒ befand sich in der Weseler Altstadt. Der Zugang lag in der Schmidtstraße 2.2 Dort war die   Produktion, d. h. die Schmiede und das umfangreiche Lager untergebracht. Der vordere Teil des Anwesens  zur Brückstraße diente als Wohn- und Geschäftshaus. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde der Inhaber der Firma, der Kaufmann Carl Zaudy, zweimal, und zwar 1872 und  1876, als einziger Jude in der Geschichte Wesels in den Weseler Rat gewählt.3

DIE BAUHERRIN MARGARETE ZAUDY

Margarete Charlotte Zaudy wurde am 11. Dezember 1881 als einziges Mädchen und letztes von vier Kindern geboren. 4 Margarete war ein aufgewecktes Kind, aber wie ihr Vater Carl Zaudy meinte, nicht sonderlich hübsch. Dies erschien ihm aus der Sicht des Brautvaters, dem ja die Gestellung der Mitgift zukam, als nicht besonders glücklich. Für Margarete sollte die Übernahme des elterlichen Geschäftes die Grundlage ihrer materiellen Absicherung bilden.

Nach Beendigung ihrer Schulzeit an der Weseler Höheren Töchter Schule wurde das Mädchen zu einer Familie nach Frankfurt geschickt, um dort ihre kaufmännischen Kenntnisse abseits des Elternhauses, aber doch unter Aufsicht, reifen zu lassen.5 Dies war das übliche Verfahren, mit  dem Kauf- und Handelsleute ihre designierten Nachfolger auf die Übernahme des eigenen Geschäftes vorbereiteten. In diesem Punkte wurde Margarete völlig gleich dem männlichen Nachwuchs behandelt. In  Frankfurt arbeitete Margarete dann aber nicht nur an der Verbesserung ihrer kaufmännischen Kenntnisse, sondern sie entwickelte darüber hinaus ein starkes Interesse für das gesellschaftliche und künstlerische Leben in Frankfurt, was von ihren Eltern nicht geplant gewesen war. Als diese davon erfuhren, wurde Margarete unverzüglich zurück nach Hause beordert.

Vorderansicht der Häuser Brückstraße 14 und 16, links die klassizistische
Fassade des Geschäftes Carl Zaudy, um 1900, Quelle: Stadt Wesel

Die in ihrer kurzen Frankfurter Zeit geschlossenen Freundschaften, die Eindrücke und Erfahrungen, die ihr als junge Frau den persönlichen Zugang zur Kunst eröffneten, haben dennoch ihr weiteres Leben nachhaltig beeinflusst.

1904, im Alter von 25 Jahren, heiratete Margarete Zaudy den neun Jahre älteren Kaufmann Hugo Brandenstein, dessen Eltern nördlich von Kassel lebten und der sich zuletzt in Essen aufgehalten hatte. Diese Heirat war ‒ nach allem, was was wir wissen ‒ keine Liebesheirat gewesen, sondern eine von den Eltern arrangierte. Beiden gelang ein dauerhaftes Zusammenleben auf der Basis von gegenseitiger Achtung und Respekt. Hugo Brandenstein war ein guter Kaufmann, er arbeitete im Hintergrund, war für die  Buchführung und die Verwaltung des Geschäftes zuständig. Seine Frau übernahm die künstlerische  Ausrichtung des Geschäftes und die Betreuung der Kundschaft, die nicht selten von auswärts kam.

Die künstlerischen Interessen von Margarete Zaudy waren aber nicht nur eine Marotte, sondern bildeten eine wesentliche Grundlage für den Erfolg der Firma Zaudy in der Zeit des Kaiserreiches und der Weimarer Republik. Unter dem Einfluss von Margarete vollzog sich allmählich ein völliger Sortimentswechsel, weg von  der Produktion und dem Handel mit Eisenwaren, hin zu einem Einrichtungshaus der gehobenen Klasse mit einem betont kunstgewerblichem Schwerpunkt. Der genaue Zeitpunkt dieses Wandels ist nicht eindeutig zu bestimmen, aber es spricht einiges dafür, dass ab der Heirat im Jahre 1904 und der damit verbundenen Übertragung des Geschäftes auf die jungen Eheleute Margarete verstärkt Einfluss auf die Geschäftsführung im Haus in der Brückstraße nahm.

Fast zur gleichen Zeit, etwa um 1900 bis 1905, war im Kaiserreich die Gründungsphase der ersten  Warenhäuser und warenhausähnlicher Spezialgeschäfte bereits abgeschlossen. In dieser Phase hatten sich die Warenhäuser nach dem amerikanischen Vorbild von Woolworth auf Käufer mit niedrigerem Einkommen konzentriert, und durch das ständig steigende Angebot an billigen Massenartikeln war es ihnen gelungen, in diesem Bereich profitabel zu wirtschaften.

Der alte Baubestand auf den Grundstücken
Brückstraße 14 und Schmidtstraße 2 vor dem Umbau
von 1910, Quelle: Stadt Wesel

In den ersten Jahren nach 1900 wurde aber immer klarer, dass hier kein weiteres Wachstum mehr möglich war. Die Geschäftsstrategen konzentrierten sich nun auf die Kundschaft des Mittelstandes und der höherstehenden Kreise.7

Dazu waren zwei Dinge notwendig: das Sortiment mit höherwertigen Waren auszustatten und den Verkaufsstätten, sprich Warenhäusern, eine anspruchsvolle Architektur zu geben. Diese gehobene Außen- und Innenarchitektur sollte die Qualität der angebotenen Waren unterstreichen und so entscheidend dabei helfen, den Umsatz weiter anzukurbeln. Die ersten Kaufhäuser nach diesem Prinzip entstanden in  Deutschland in Berlin, z. B. das bekannte Warenhaus Wertheim am Leipziger Platz, das von Alfred Messel, dem Vater der anspruchsvollen Warenhausarchitektur, zwischen 1896 und 1906 in mehreren  Bauabschnitten geplant worden war.

Nun ist Wesel zwar nicht mit Frankfurt, Düsseldorf oder Berlin zu vergleichen, aber die beschriebene  Entwicklung war auch in Wesel nicht unbemerkt geblieben. Familie Brandenstein-Zaudy versuchte, die letztgenannte Entwicklung gezielt für ihr neues Geschäftskonzept zu nutzen. Deutlich wird dies am Umbau des Geschäftshauses im Jahr 1910. Erstmals wurde ein auswärtiger Architekt beauftragt, und dieser war kein geringerer als Otto Engler.

DER UMBAU DURCH OTTO ENGLER

Otto Engler stand 1910 nicht mehr am Anfang seiner Karriere, sondern gehörte zu dieser Zeit bereits zu einer kleinen Elite von Architekten um den Altmeister Alfred Messel, die maßgebend die damalige neue Warenhausarchitekturim Kaiserreich formten. Engler hatte u. a. 1908/09 das Kaufhaus Wronker in Frankfurt am Main an der Zeil zum größten Kaufhaus der Stadt mit fünf Stockwerken und einer Front von 80 Metern umgebaut. 1909 war Engler von Paul Carsch mit dem Entwurf und Bau des 1915 an der Alleestraße in  Düsseldorf eröffneten Carsch Hauses beauftragt worden. Das Carsch Haus war damals ebenfalls eines der größten Kaufhäuser in Deutschland und mit seinem Sortiment und seinen Preisen eindeutig auf die vermögende Oberschicht ausgerichtet. Es ist daher bemerkenswert, dass Margarete Zaudy sich für ihr  Bauvorhaben gerade Otto Engler ausgesucht hatte und ihn auch gewinnen konnte. Die Bauarbeiten selbst wurden nach den Plänen von Otto Engler durch die Weseler Baufirma Heinrich Ziegler ausgeführt.

Otto Englers Plan von 1910 zum Umbau der Geschäftsräume
auf dem Grundstück Brückstraße 14, Quelle: Stadt Wesel

Das Geschäftshaus der Firma Zaudy lag in der dicht bebauten Weseler Altstadt und erstreckte sich über mehrere schmale, in die Tiefe reichende Parzellen von der Brückbis zur Schmidtstraße. Entsprechend verwinkelt und verschachtelt war die Raumaufteilung, die sich auch noch über ein zweites,  mehrgeschossiges, hinterhofartiges Gebäude erstreckte. Der Plan von Engler sah hier, unter Beibehaltung
der Grundsubstanz des Vorderhauses, eine großzügige Neuaufteilung der Geschäftsräume vor, und zwar bezogen auf die gesamte Grundstückstiefe von knapp 43 Metern. Dazu wurden alle Gebäude, mit Ausnahme des vorderen Geschäftshauses zur Brückstraße, auf den Besitzungen Brück- und Schmidtstraße niedergelegt und zunächst durch einen eingeschossigen Hallenbau ersetzt. Dieser Neubau wurde in Eisenfachwerk mit massiven Betondecken und Wänden ausgeführt. Da dieser Bau keine Fassade aufwies, die für das Publikum sichtbar gewesen wäre, konnte hier von Engler auch nichts gestaltet werden. Dafür kam aber der Beleuchtung des Raumes, die in voller Länge über Oberlichter erfolgte, eine besondere Bedeutung
zu. Die Lichtwirkung, die man damit erzielte, sollte an die Lichtwirkung der innenliegenden Lichthöfe in den großen, modernen Warenhäusern erinnern, und Margarete Zaudy hat es verstanden, diesen Effekt sehr vorteilhaft in ihren nur 4,50 m hohen Räumen für die Präsentation der angebotenen Waren zu nutzen.

Düsseldorf, Tietz-Wettbewerb, Projekt von Otto und
Paul Engler, Lichthof, Quelle: Stadt Wesel

1911 wurden, ebenfalls nach Plänen von Otto Engler, die Bauten für Werkstatt und Lager auf den Parzellen der Schmidtstraße erneuert.8 Mit Werkstatt ist aber nicht mehr die alte Schmiede gemeint, sondern eine Schneiderei und eine Polsterei. 9

Die Stadt befürwortete diese Umbauten, da damit aus ihrer Sicht eine eindeutige Verbesserung des allgemeinen Brandschutzes erzielt wurde. Die alten Gebäude hattenvorher ausschließlich Holzdecken besessen und auch die Seitenwände der Gebäude waren nur eingeschränkt feuerfest gewesen.

Für eine Veränderung der Vorderfront des Hauptgebäudes durch Engler finden sich in den Akten keine Belege. Dies ist sehr ungewöhnlich, da es eigentlich zum Credo der  modernenWarenhausarchitektur gehörte, über die Gestaltung der Außenfassade dem Publikum schon auf der Straße vor Augen zu führen, was ihn im Inneren erwartete.11 Wir müssen aber trotzdem davon ausgehen, dass die Vorderfront des Hauses Brückstraße 14 nicht verändert wurde und somit nicht Otto Engler zuzurechnen ist.

Die Breite der Fassade betrug lediglich 6,40 m. Im Erdgeschoss befand sich ein unterteiltes Schaufenster und rechts davon der Eingang. Den Abschluss des Erdgeschosses bildete ein breites Sims mit einer auffälligen Reklametafel. Die beiden Obergeschosse zeigten sich eher zurückhaltend mit stark betonten Querachsen, um das schmale Haus optisch ein wenig breiter erscheinen zu lassen. Das Dach war von der Straße her fast nicht zu sehen, es wurde durch ein kräftiges, ebenfalls die Horizontale betonendes Sims verdeckt. Damit fügte sich die im klassizistischen Stil gehaltene Außenfassade nahtlos, ja fast vornehm zurückhaltend in die bestehende Umgebung ein.

Der Umbau der Geschäftsräume der Firma Zaudy ist ein sehr interessantes Beispiel für die Vielseitigkeit des Architekten Otto Engler, dem man auch nachsagte, er sei der Mann fürs Praktische. Wer als Bauherr Engler beauftragte, konnte sich eines Geschäftshauses sicher sein, das alle funktionalen Forderungen bestens erfüllen und das gestalterisch von solider, überdurchschnittlicher Qualität sein würde.11

DER ERSTE WELTKRIEG UND DIE WEIMARER ZEIT

Bereits vier Jahre nach dem Umbau des Geschäftes brach im August 1914 der Erste Weltkrieg aus. Hugo Brandenstein wurde nicht mehr eingezogen, da er bereits zu alt für den aktiven Kriegsdienst war.

Seine Frau Margarete engagierte sich bereits seit Januar 1914 in der Frauenrechtsschutzstelle des Nationalen Frauendienstes. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges stellte das bisherige Leben völlig auf den Kopf und auch den nationalen Frauendienst vor ganz neue Herausforderungen. Bereits am zweiten Mobilmachungstag, am 3. August 1914 beschlossen die Damen der Frauenrechtsschutzstelle, sich besonders für die Unterstützung der Ehefrauen und Kinder der als Soldaten einberufenen Männer einzusetzen. Den Frauen war klar, dass für den Verdienstausfall der Männer ein Ersatz geschaffen werden musste, damit gerade die weniger begüterten Familien nicht der Gefahr der Armut und Verelendung ausgesetzt sein würden. Deshalb konzentrierte man sich vorrangig darauf, den Frauen eine bezahlte Arbeit zu verschaffen. Die ersten wurden an das hiesige Proviantamt vermittelt, wo sie Zwieback für die Front verpackten. Später reisten Margarete Brandenstein- Zaudy, Bürgermeister Poppelbaum und Frau Röttger, die Vorsitzende der Weseler Geschäftsstelle des Nationalen Frauendienstes, nach Münster, um dort Verträge mit Heereslieferanten für das Nähen von Uniformhosen abzuschließen. Dadurch konnten im Oktober 1914 in Wesel 270 Arbeiterinnen beschäftigt werden. Die Unterbringung der Frauen in Arbeitsstellen machte natürlich eine Unterbringung ihrer Kinder notwendig. So wurde unverzüglich mit der Schaffung einer Krippe und eines Hortes begonnen, nachdem sich herausstellt hatte, dass das Rote Kreuz und der Vaterländische Frauenverein gemäß ihrer Statuten dafür nicht zuständig waren. Die beiden Letztgenannten waren mit der Sorge um die Soldaten im Feld und in der Heimat betraut. Der Nationale Frauendienst übernahm dafür die Sorge für die Angehörigen. Man hatte keinen Generalplan, aber passte sich immer wieder sehr flexibel den neuen Herausforderungen an, wobei stets konfessions- und standesübergreifend produktiv zusammengearbeitet wurde. Die immer schlechter werdende Versorgungslage in den letzten beiden Kriegsjahren hat die Arbeit aller im Nationalen Frauendienst engagierten Frauen ständig vor neue Herausforderungen gestellt.12

Der normale Geschäftsbetrieb bei der Firma Zaudy kam während des Krieges, wie in den meisten Branchen, die nicht gerade für Heereslieferanten oder in der Rüstung arbeiteten, fast völlig zum Erliegen. Mit dem Fortschreiten des Krieges gewann auch in Wesel die Sorge um die Beschaffung von Lebensmitteln und die Versorgung der Familien mit dem unbedingt Lebensnotwendigen immer mehr Vorrang. Das Ende des Krieges im November 1918 brachte zwar ein Ende der Kämpfe, aber die Zukunft Wesels erschien vollkommen ungewiss, und nicht nur die Familie Zaudy stellte sich die Frage, wie es überhaupt
weitergehen sollte.

Auf Grund des Waffenstillstandsvertrages vom 11. November 1918 im Wald von Compiègne rückte bereits im Januar 1919 ein belgisches Militärkommando in Wesel ein und besetzte zunächst den Weseler Hafen und dessen Lager und Verladeanlagen sowie die Weseler Rheinbrücken, ab 1923 zusätzlich noch die Weseler Rheinvorstadt. Die Situation verschärfte sich 1923 allgemein mit der Besetzung des Ruhrgebietes durch französische und belgische Truppen. Die Besatzungszone des Ruhrgebietes reichte bis an die Lippe und plötzlich war Wesel eine Grenzstadt geworden, die teilweise ebenfalls durch fremde Truppen besetzt war.13 Die Blockadepolitik der Besatzungsmächte verhinderte darüber hinaus einen durchgehenden Zugbetrieb von Wesel in oder durch die besetzte Zone und traf die Stadt und den Handel ganz empfindlich.14 Alle Handelsverbindungen Richtung Süden und Westen waren so gut wie tot. Da die auswärtigen Geschäftsbeziehungen der Firma Zaudy gerade in den jetzt von Wesel aus nicht mehr erreichbaren Gebieten lagen, eröffneten die Zaudys ersatzweise 1923/24 ein Geschäft im unbesetzten Gebiet, und zwar in der Kurstadt Bad Oeynhausen. Das Angebot in der dortigen „Hauskunst Zaudy“ entsprach in etwa dem gehobenen Sortiment in Wesel, welches zu dieser Zeit aber von Wesel aus nicht zu vermarkten war.

Nach dem Ende der Besatzung Wesels durch die Belgier, die bis zum bis 21. Oktober 1924 dauerte, wurde für die Firma Zaudy wieder ihr „Stammhaus“ in Wesel zum Zentrum des Geschäftes, und im Januar 1928 waren bei Zaudy in Wesel im Nähraum wieder sechs bis zehn Personen und in der Polsterei fünf bis acht Personen beschäftigt.15

Als die Firma Zaudy 1927 einen Antrag auf Vergrößerung ihrer Geschäftsräume einschließlich der Überdachung ihres Hofraumes stellte, benötigte sie hierzu erneut einen Dispens, d. h. eine Ausnahmegenehmigung der Regierung, da die laut Bauvorschrift vorzuhaltende Mindesthoffläche aufgrund des Zuschnittes des Grundstückes nicht realisierbar war. Bürgermeister Poppelbaum, der von 1903 bis 1931 in Wesel amtierte, befürwortete den Antrag auf Dispens u. a. mit der Begründung: „Die Fa. Zaudy ist eine der bedeutendsten Dekorationsgeschäfte mit Kunsthandlung am Niederrhein, deren weitere erfreuliche Entwicklung auch die Polizei-Verwaltung gern fördert“.16

DER UMBAU DURCH GERRIT RIETVELD

Das Rietveld-Schröder-Haus in Utrecht, 1924 von Rietveld für Frau Truus Schröder-Schräder
und ihre drei Kinder gebaut, heute Museum und UNESCO Weltkulturerbe, Quelle: Stadt Wesel
Modell von Gerrit Rietveld für den Umbau der Fassade
Brückstr. 14 von 1928, Quelle: Stadt Wesel

1928 stellte die Firma Zaudy einen weiteren Bauantrag mit dem Ziel, das gesamte Vorderhaus einschließlich der Fassade neu zu gestalten. Der Entwurf zu dieser neuen Fassade stammte von Gerrit Rietveld, der sich zu diesem Zeitpunkt bereits als Möbeldesigner einen Namen gemacht hatte, als Architekt aber gerade erst am Anfang seiner letztlich internationalen Karriere stand.

Rietveld war zwar mit dem Rietveld-Schröder-Haus in Utrecht zu einer gewissen Bekanntheit gelangt, ihm fehlten aber in diesen wirtschaftlich schwierigen Jahren die notwendigen Folgeaufträge. Margarete Zaudy war von dem neuen Baustil so fasziniert, dass sie Rietveld den Umbau ihres Geschäftshauses in Wesel anvertraute. Für Rietveld bedeutete dies eine wichtige Vertiefung seiner Kontakte zum nahegelegenen deutschen Markt.17

Rietvelds Entwurf war aber für die Fachleute im Weseler Rathaus derart neu und ungewohnt, dass die örtliche Bauaufsicht hierfür nicht die alleinige Verantwortung übernehmen wollte. Am 26. Juni 1928 wurde eigens ein Ortstermin mit dem zuständigen Dezernenten des Regierungspräsidenten in Düsseldorf, dem Regierungs- und Baurat Heusgen, in Wesel anberaumt. Anhand der Ortsbesichtigung und eines Modells wurde das Bauvorhaben schließlich von höchster Stelle abgesegnet.18

Nun stand dem Umbau nichts mehr im Wege. Der Bauantrag wurde durch den Weseler Architekten Gerhard Tinnefeld gestellt und Statik und Bauausführung erfolgten durch die Weseler Firma F. C. Trapp.19 Am 1. Oktober 1928 konnte bereits der Rohbau fertiggestellt werden, und im gleichen Jahr wurde auch das Geschäft in Bad Oeynhausen wieder aufgegeben.

Bauzeichnung von Gerrit Rietveld zum Umbau des Geschäftes
Brückstraße 14 mit einem später beigefügten Foto des fertigen
Umbaus von 1928, Quelle: Stadt Wesel

Das neue Geschäft und insbesondere die Fassade waren in Wesel ein absoluter Blickfang. Das Erdgeschoss wurde von einem leicht aus der Achse gedrehten, nach drei Seiten freistehenden Glaskasten beherrscht, der es erlaubte, die ausgestellten Waren nahezu von allen Seiten zu betrachten. Um den Glaskasten herum entstand eine Art Passage, durch die man das Geschäft betreten konnte. Auffällige Licht- und Farbakzente taten ein Übriges, das Besondere dieses Geschäftes zu betonen. So war u. a. der Eingangsbereich mit einem blauen, fugenlosen Estrich versehen.

Die beiden Obergeschosse waren ebenfalls durchgehend verglast, wodurch auch hier ein Blick von außen auf das Interieur möglich war. Durch die Auflösung der zur Straße liegenden Wände entstand eine räumliche Tiefe, die den Betrachter quasi in das Innere des Gebäudes hineinzog. Eine großzügige Reklame machte die Passanten zusätzlich auf das Objekt aufmerksam, und mit dem Einsatz von prägnanten Farben, die dank neuer Lichttechniken auch bei Dunkelheit zur Verfügung standen, konnte die Aufmerksamkeit des Betrachters jetzt zu jeder beliebigen Zeit auf das Geschäft und dessen Produkte gelenkt werden.

Die Inneneinrichtung lag ausschließlich in der Hand von Margarete Zaudy. Geschickt kombinierte sie Antikes und Modernes zu einem spannungsvollen, edlen Ambiente, das auch in jeder Großstadt hätte bestehen können. Für den Umbau war es auch notwendig geworden, die alte, aus dem Jahre 1676 stammende Stuckdecke aus- und anschließend wieder einzubauen. Auf diese Decke war die Familie besonders stolz, und Margarete Zaudy hat sie ebenfalls sehr gekonnt in die neuen Geschäftsräume integriert. Zur Schaffung eines neuen Treppenhauses sowie für den Einbau eines Aufzuges wurde auch ein Teil der 1910 neugebauten Verkaufsräume umgebaut. Der hintere Teil der von Otto Engler geschaffenen Verkaufsräume blieb allerdings auch im neuen Haus erhalten.

Ansicht des Einrichtungshauses Zaudy bei Nacht,
1928 Rechts untereinander in Reihe
angeordnet die gleichen Lampen, die Rietveld seit
1922 mehrfach für Inneneinrichtungen
verwendet hatte, Quelle: Stadt Wesel
Von Rietveld entworfene, in ihrer Grundform schon 1922
konzipierte Lampe im Rietveld-Schröder-Haus in Utrecht,
wie er sie in etwas abgewandelter Anordnung auch für das
Einrichtungshaus Zaudy einsetzte, Quelle: Stadt Wesel

Damit war durch die Kontakte und Aufträge von Margarete Zaudy in Wesel ein Anwesen entstanden, das die Handschrift zweier bedeutender Architekten trug und an dem zwei unterschiedliche Baustile, sowohl aus der Kaiserzeit als auch aus der Moderne, exemplarisch nebeneinander studiert werden konnten, was in dieser Weise in Wesel einmalig war. Etwas Besonderes für Wesel war auch der Einbau des ersten Aufzuges in einem allgemein zugänglichen Geschäft, zu einer Zeit, als es in der Stadt gerade einmal zwei weitere Aufzüge gab: einer befand sich im Marienhospital, der andere war ein nicht öffentlich zugänglicher Lastenaufzug bei der Firma Schmidt in der Wilhelmstraße.20

1929 konnte dann im neuen Haus das 25-jährige Firmenjubiläum gefeiert werden. Die „25“ ist dabei ein weiterer Hinweis auf die Emanzipation vom elterlichen Eisenwarenhandel seit der Hochzeit der Geschäftsinhaber im Jahre 1904. Eine Fotografie zeigt das Ehepaar Brandenstein-Zaudy 1929 inmitten von Mitarbeitern und Freunden. Margarete ist schon von ihrer Krankheit gezeichnet.

Bereits 1930 halfen die Bestrahlungen in einer Frankfurter Fachklinik nicht mehr gegen die schwere Krankheit. Margarete Brandenstein-Zaudy wurde nur 49 Jahre alt. Sie starb am 23. Oktober und wurde am 28. Oktober 1930 auf dem jüdischen Friedhof in Wesel begraben.21

Das Einrichtungshaus Zaudy nach dem Umbau durch Rietveld
im Jahre 1928, im Vordergrund die neue Warenausgabe und der
neue Empfang mit Treppenhaus und Aufzug, im Hintergrund der schon
von Engler geplante und erhaltene Verkaufsraum von
1910, Quelle: Stadt Wesel

Durch ihren frühen Tod blieben ihr die Greuel der Nationalsozialisten und die Zerstörung ihres Lebenswerkes erspart. Denn das Unheil ließ nicht lange auf sich warten. Vom 9. auf den 10. November 1938 wurde in der sogenannten „Reichskristallnacht“ auch das Geschäftshaus der Familie Zaudy in der Brückstraße völlig verwüstet. Dabei wurden u. a. die Scheiben der gesamten Vorderfront eingeschlagen, die Inneneinrichtung demoliert und die anwesenden Familienmitglieder übel beschimpft und misshandelt.

Das 25-jährige Geschäftsjubiläum der Firma C. Zaudy-Brandenstein, in der Mitte Hugo
Brandenstein und Margarete Brandenstein-Zaudy, 4. Oktober 1929, Quelle: Stadt Wesel

Vier Monate erinnerte das demolierte Geschäft mitten in der zentralen Einkaufsstraße an diese Schandtat. Das Haus war inzwischen in den Besitz des Reichsfiskus übergegangen, und im Februar 1939 wurde die Vorderfront „des Judengeschäftes Zaudy“ wiederhergestellt.22 Dabei wurde es gleichzeitig rückgebaut, d. h. das Besondere der Fassade, die Glasfront, wurde durch eine historisierende Putzfassade mit Treppengiebel ersetzt. Diese hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit der alten Fassade vor 1928. Die Nationalsozialisten störte dies nicht. Ihnen kam es vor allem darauf an, die Erinnerung an das alte Geschäft Zaudy und alles Jüdische auszulöschen.

Bei den Luftangriffen der Alliierten auf Wesel vom Februar und März 1945 wurde die Brückstraße fast restlos zerstört, bis auf den Torso des 1928 umgebauten Geschäftes von Zaudy. Der Grund dafür lag in der Bauausführung. Der Umbau des Gebäudes war seinerzeit u. a. davon abhängig gemacht worden, dass es neuesten feuerpolizeilichen Gesichtspunkten entsprechen müsse. Darüber hinaus war Rietveld als Vertreter der modernen Architektur ein erklärter Anhänger des neuen Baustoffs Stahlbeton. Letztendlich wurde 1928 eben nicht nur die Fassade in der Brückstraße 14 erneuert, sondern aus statischen und feuerpolizeilichen Gründen wurden fast die gesamten Wände und Decken durch Stahlbetonkonstruktionen ersetzt, was das Gebäude gegenüber seinen Nachbargebäuden widerstandsfähiger gemacht hatte. Der nach dem Krieg folgende Wiederaufbau der Stadt, mit der damit verbundenen Umlegung der Grundstücke, lässt im heutigen Stadtbild keine Rückschlüsse auf das damalige außergewöhnliche Erscheinungsbild mehr zu.

Das von den Nationalsozialisten verwüstete Einrichtungshaus
Zaudy mit demolierter Fassade, November 1938, Quelle: Stadt Wesel
Blick aus der Luft auf die nördliche Häuserzeile
der Breiten Brückstraße, ungefähr in der Mitte
das ehemalige, „historisierend“ rückgebaute
Einrichtungshaus Zaudy mit weißem Treppengiebel,
1939, Quelle: Stadt Wesel
Blick durch die belebte Brückstraße Richtung Viehtor –
links, hinter dem Schwan, leicht angeschnitten, das
Einrichtungshaus Zaudy mit der neuen, markanten
Rietveld-Fassade, Anfang der 1930er Jahre, Quelle: Stadt Wesel
Blick durch die zerstörte Brückstraße Richtung Viehtor,
ungefähr in der Bildmitte, erkennbar an den rechteckigen
Geschossöffnungen und dem zurückspringenden obersten
Geschoss, die Reste des ehemaligen Einrichtungshauses
Zaudy, nunmehr ohne die ihm von den Nationalsozialisten
verordnete „deutsche“ Fassade, 1947, Quelle: Stadt Wesel

 

 


 

 

* Der folgende Beitrag stützt sich auf meinen Aufsatz: Das Geschäftshaus der Familie Zaudy in Wesel in der Brückstraße 14. Ein Haus – zwei bekannte Baumeister, in: Wesel und der untere Niederrhein. Beiträge zur rheinischen Geschichte, Wesel 2012, S. 183–196.
1 StA Wesel B 11/518, fol. 8.
2 Schmid- oder Schmidt-Straße bedeutet nichts anderes als Schmiede-Straße, die Straße also, in der die Schmiede wohnen.
3 Tohermes, Jüdische Gemeinde Wesel 1600–1933, S. 54.
4 StA Wesel, Standesamt Wesel, Geburten 1881/91.
5 Margarete ist nicht in den hiesigen Melderegistern aufgeführt, wie beispielsweise ihre Brüder. Da aber für Wesel kriegsbedingt die Überlieferung für die Jahre 1897 und 1898 fehlt, liegt die Vermutung nahe, dass sie in dieser Zeit in Frankfurt war.
6 StA Wesel, Standesamt Wesel, Heiraten 1904/97.
7 Eberhard Grunsky, Otto Engler. Geschäfts- und Warenhausarchitektur 1904–1914 (Landeskonservator Rheinland, Arbeitsheft 28), Köln 1979, S. 29.
8 StA Wesel B 11/518, fol. 73–74.
9 Es gibt in den Plänen von Wesel noch eine kleine Schmiede bei Zaudy, diese wurde aber auf einen Teil des Gartengrundstücks der Familie vor dem Berliner Tor verlegt.
10 Alfred Wiener, Das Warenhaus, Diss. Techn. Hochschule Dresden, Berlin 1911, vgl. hier Anm. 18, und vgl. Grunsky. Otto Engler, S. 18.
11 Grunsky. Otto Engler, S. 71.
12 StA Wesel B10/224, fol. 18 ff.
13 Verwaltungsbericht der Stadt Wesel 1913–26, Anhang S. 99 ff.
14 Siehe hierzu Gerd Krüger, Das „Unternehmen Wesel“ im Ruhrkampf von 1923. Rekonstruktion eines misslungenen Anschlags auf den Frieden, in: Horst Schroeder/Gerd Krüger, Realschule und Ruhrkampf. Beiträge zur Stadtgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts (Studien und Quellen zur Geschichte von Wesel 24), hrsg. von Martin Wilhelm
Roelen, Wesel 2002, S. 90–150.
15 StA Wesel B11/518, fol. 111.
16 StA Wesel B11/518, fol. 98 und 103v.
17 Lange Zeit war nicht eindeutig geklärt, ob der Umbau des Hauses tatsächlich von Rietveld geplant war, da sich in den Weseler Beständen seine Beteiligung nicht explizit nachweisen ließ. Durch eine Sichtung des Werkverzeichnisses von Rietveld im Jahr 2009 im Centraal Museum in Utrecht konnte aber Klarheit geschaffen werden. Dort befinden sich zum Teil die gleichen Pläne und Entwürfe zum Objekt Brückstraße 14 wie im Weseler Stadtarchiv, aber signiert durch Rietveld selbst sowie weitere aufschlussreiche Informationen. Den Kuratoren sei bei dieser Gelegenheit nochmals herzlich für ihr Entgegenkommen gedankt.
18 StA Wesel B11/518, fol. 134.
19 StA Wesel B11/518, fol. 142–145.
20 StA Wesel B11/518, fol. 184v.
21 Jutta Prieur, Die Weseler Mäzenin Margarete Brandenstein-Zaudy – Ein Mosaik, in: Tobias Arand/Annekatrein Löw (Hrsg.), Kunst – Kultur – Geschichte am Niederrhein. Festschrift Werner Arand zum 70.Geburtstag, Bielefeld 2005, S. 213–234.
22 StA Wesel B11/518, fol. 194.