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Frömmigkeit, Ordnung und Sünde.

Die Protokolle des Presbyteriums der reformierten Gemeinde Wesel (1612-1636)

von Erika Münster-Schröer und Gregor Weiermüller Universität Duisburg-Essen, 15.2.2018

  1. Einleitung - Die Quellen
  2. Die Aufgaben des Presbyteriums heute und damals
  3. Der Umgang mit Frauen und der Vorwurf der Hurerei
  4. Die Haltung gegenüber der spanischen Besatzungsmacht
  5. Das Verhalten gegenüber Juden
  6. Der Umgang mit Katholiken und Lutheranern
  7. Die Versorgung von Kranken und Waisen
  8. Exkurs: Das katholische Presbyterat [die Priesterweihe] und sein Amt in der kirchlichen Organisation heute
  9. Anmerkungen

1. Einleitung - Die Quellen

Titelseite des gedruckten Presbyterialprotokollbandes
1612–1624 von Hermann Kleinholz

Die Presbyteriumsprotokolle des 17. Jahrhunderts, die sich im Evangelischen Kirchenarchiv Wesel befinden und ediert vorliegen, lassen sich, in Ergänzung zu weiteren Quellen aus dem Stadtarchiv Wesel, unter verschiedenen historischen Fragestellungen sehr gut nutzen. Verschiedene Perspektiven auf Stadtgesellschaft und Alltag, Devianz und Ausgrenzung, Religion und Politik können dabei in den Blick genommen werden, und auch für kirchengeschichtliche Untersuchungen können sie herangezogen werden.1 Die Protokolle eignen sich für exemplarische, regional vergleichende Untersuchungen ebenso wie für mikrohistorische Fragestellungen.

Wir haben daher im Wintersemester 2017/18 Auszüge aus den Protokollen im Rahmen einer Übung zur Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Duisburg-Essen unter vielfältigen Aspekten gemeinsam gelesen und näher untersucht. Einige dieser Ergebnisse möchten wir hier näher vorstellen. Sie sind zum einen zur Information für geschichtsinteressierte und auch an religiösen Fragen interessierte Bürgerinnen und Bürger gedacht. Zum anderen wollen wir Anregungen für weitergehende sozial- und religionsgeschichtliche Forschungen geben, die sich solche archivischen Quellen zunutze machen möchten.

Im Rahmen der Übung wurden nicht nur die editierten Texte benutzt, sondern es wurden auch einige wenige ausgewählte handschriftliche Textquellen aus den Magistratsprotokollen hinzugezogen. Diese hatte uns das Stadtarchiv Wesel dankenswerterweise digital zur Verfügung gestellt. Die Entzifferung und Lektüre der Handschriften war eine große Herausforderung, ging aber schließlich mit der Erfahrung einher, dass mit Übung und etwas Geduld die Lektüre durchaus gelingen kann.

In Einzelfällen lohnt sich bei der Auswertung der Presbyteriumsprotokolle zusätzlich auch ein Blick in die Edikte des Weseler Stadtrats, die in gedruckter Fassung vorliegen.2 Überraschend war, dass sich im Verlauf der Übung immer wieder Diskussionen über Religion heute ergaben, so dass wir an einigen Stellen und vor allem in einem Exkurs kurz darauf eingegangen sind.

Wesel war die größte und bedeutendste Stadt im Herzogtum Kleve. 1540 war die Reformation eingeführt worden, und seit den 1560-er Jahren tendierte die Stadt zum Calvinismus. Sie geriet bald in die Auseinandersetzungen des Spanisch-Niederländischen Krieges und wurde von 1614 bis 1629 durchgehend durch die katholischen Spanier belagert. Abgelöst wurden diese dann für 43 Jahre durch die protestantische, niederländische Besatzungsmacht.

2. Die Aufgaben des Presbyteriums heute und damals

Die Funktion eines Presbyteriums, im allgemeinen Verständnis mit dem Protestantismus verbunden, hat sich gegenüber dem 17. Jahrhundert teilweise verändert. Auch in der katholischen Kirche wird, öffentlich kaum bekannt, in Zusammenhang mit der Priesterweihe um das Presbyterat gerungen (siehe Exkurs).

Die Mathenakirche in der gleichnamigen Vorstadt

Heute wie damals wird „Presbyterium“ in der Evangelischen Kirche als ein zentraler Begriff verwendet. Die presbyterial-synodale Ordnung der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW), die hier als Beispiel angeführt wird, ist durch drei Grundentscheidungen gekennzeichnet:

„1. Die Kirche baut sich in ihrer Ordnung von der Kirchengemeinde her auf. 2. Die Leitung der Kirche liegt auf der Ebene der Kirchengemeinde bei gewählten Presbyterien und auf der kreis- und landeskirchlichen Ebene bei den Synoden (Kreissynode, Landessynode). 3. In allen Leitungsorganen wirken auf allen Ebenen Ordinierte sowie Presbyterinnen und Presbyter gleichberechtigt zusammen.“ 3 Die Kirchenordnung der Evangelischen Kirche von Westfalen ist Grundlage der Amtsführung der Presbyterin und des Presbyters: „Ein Presbyterium hat viele unterschiedliche Aufgaben. So muss es z.B. Personalverantwortung wahrnehmen, verantwortlich mit den zugewiesenen Finanzen umgehen, die Kirchenordnung befolgen, Vorschriften kennen und einhalten und notwendige Strukturanpassungen vornehmen. Das hat bisher und wird zukünftig einen großen Teil der Presbyteriumssitzungen bestimmen. Dass aber eine Kirchengemeinde mehr ist als ein Betrieb, hat Rückwirkungen auf das Selbstverständnis des Presbyteriums.“ 4 Die biblischen Leitbilder und die geistliche Verantwortung spielen dabei eine herausragende Rolle.

Im 16. Jahrhundert, zur Zeit der Entstehung des Reformierten Bekenntnisses von Johannes Calvin, erfolgte die „Regierung der Kirche“ durch die Ämter. Besonders das Amt der Ältesten hatte eine religiöse und politische Funktion. Beide Aspekte sind wichtige Grundlagen für das Verstehen der Aufgaben des Presbyteriums in Wesel. Calvin erachtete die Kirchenzucht als wesentlichen Bestandteil, weil die Lebensführung der einzelnen Personen für die religiöse Prägnanz der reformierten Kirche sehr bedeutend war.

Die „Regierung der Kirche“ erfolgte durch vier Ämter für den Zusammenhalt mit Wort und Zucht. Eine solche Amtskirche bestand aus den Pastoren, Doktoren, den Ältesten und Diakonen: Pastoren unterwiesen in Predigten und durch Ermahnungen die Gemeinde zur Frömmigkeit. Doktoren waren Schriftgelehrte, die sich an Aussprache über Lehre und Leben beteiligten. Diakone verwalteten u. a. die Armenfonds und konnten auch in der Krankenpflege tätig sein. Das Amt der Ältesten hatte eine religiöse und politische Funktion, denn die Ältesten waren Laien und Repräsentanten der Herrschaft Christi.5 Mit ihren religiös-sozialen Maßnahmen wurde die Lebensführung aller Gemeindemitglieder überwacht und abgestuft sanktioniert, wie „freundliche Ermahnung“, „brüderliche Zurechtweisung“ und den Ausschluss vom Abendmahl. Ihre politische Arbeit besprachen die Ältesten in den regelmäßig stattfindenden Sitzungen, die über eine der Maßnahmen entschied, und, die mit der städtischen Obrigkeit korrespondierte, sodass sich die öffentliche Präsenz des reformierten Glaubens immer auch nach außen artikulierte. Jedoch wurde darauf geachtet, die kirchliche von der weltlichen Gerichtsbarkeit zu trennen, wenn auch beides ineinander übergehen konnte, wie die Presbyteriumsprotokolle eindrücklich zeigen.

Das Presbyterium war in Wesel wie andernorts ein Gremium zur Kirchenleitung und setzte sich aus gewählten Vertretern der reformierten Gemeinde zusammen. Die calvinische Gemeindeordnung mit eigenem Presbyterium kam somit dort zur Anwendung. Es waren auch einzelne Mitglieder des Stadtrates darin vertreten, welcher sich ebenfalls aus reformierten Vertretern der Bürgerschaft zusammensetzte. Beide Gremien arbeiteten eng zusammen. Der Rat war als weltliche Obrigkeit anzusehen, das Presbyterium sollte für den aufrechten Glauben und eine „Gute Ordnung“ (Policey) sorgen. In den Protokollen ist überliefert, dass insgesamt 16 Personen zum Amt der Ältesten/Presbyter gewählt worden waren. Im Einzelnen wurde die Bestellung der Ältesten/Presbyter deutlich:6 Zwei Ratsherren kamen aus der Obrigkeit. Vier Vertreter waren Gemeinsfreunde, die ebenfalls mit dem Magistrat eng verbunden waren. Ein Abgesandter stammte aus jedem der vier Weseler Quartiere (Steinport, Viheport, Lew Port und Cloisterport), weitere aus dem Stadtgebiet. Zudem war ein Aufseher vorgesehen. In der Regel tagte das Presbyterium einmal in der Woche zumeist in der Sakristei der Mathena-Kirche in der Vorstadt, nicht im Willibrordi-Dom im Zentrum der Stadt.

Einnahme Wesels durch die Niederländer am 19. August 1629

Die presbyteriale Ordnung der Weseler calvinistischen Gemeinde war durch folgende grundsätzliche Entscheidungen gekennzeichnet:

1. Die Kirche baute sich in ihrer Ordnung vom Gottesvolk her auf. 2. Die Kirchenleitung lag bei gewählten Presbytern. 3. Presbyter und Prediger wirkten in der Leitung der Kirche gleichberechtigt zusammen.

Die Ordnung des Kirchenrats der Reformierten Gemeinde von Wesel war Grundlage der Amtsführung der Presbyter: Das Presbyterium sollte allein in Kirchensachen entscheiden und die Kooperation mit dem Magistrat als Rat weltlicher Obrigkeit organisieren. Ferner sollte es die reformierte Lehre Calvins fördern und vor Häresien schützen. Das Presbyterium sollte über die Einhaltung der Rechtstexte im Gefolge der Reformation wachen. Das Presbyterium sollte seine Autorität für die Aufsicht und Ahndung – mit „Diskretion“ – praktischer Wertvorgaben gebrauchen. Ferner sollte es, wie allgemein üblich, Kontakte zu anderen umliegenden reformierten Gemeinden aufrechterhalten.

Die Bestimmungen zur Ordnung des Kirchenrats/Presbyteriums wurden im Konvent vom 20. Februar 1612 genau definiert.7 Zwei Ratsherren aus der Obrigkeit wurden alle zwei Jahre auf Vorschlag immer am Montag nach dem zweiten Fastensonntag gewählt. Ihre Einführung und somit ihre öffentliche Bestätigung erreichten sie mit einer Predigt. Für das Amt des Ältesten musste das christliche Leben von Amtsinhabern, Kandidaten, Gottesvolk geprüft werden, damit Ungesetzlichkeiten des Lebens (Laster, Volerey, Hader) abgewendet wurden. Alle Sitzungen des Presbyteriums folgten einem geregelten Ablauf: Mit dem Gebet eröffneten die Ältesten und Prediger die Konvente immer am Montag nach der Morgenpredigt. Jeder Prediger durfte das Mindestmaß der Amtszeit (drei Monate) als Präses nicht überschreiten. Der Präses kontrollierte, ob Beschlüsse des vorangegangenen Konvents umgesetzt wurden. Erster amtierender Präses der reformierten Gemeinde in Wesel war Joannes Acronius.

Fallbeispiele aus den Sitzungen des Presbyteriums, die das Sicherstellen kirchlicher Ordnung und Lehre (Kirchenzucht) betreffen wie z. B. das Abweichen von der „reinen Lehre“ Calvins, die Störung des Friedens und Hausfriedens oder die Rolle des regelmäßigen Kirchgangs und Gottesdienstes, werden im folgenden noch ausführlicher vorgestellt. Einige seien hier bereits kurz genannt:

Ein Abfall vom reformierten Glauben war durch einen unfrommen Lebenswandel erkennbar, weswegen der Herr „D Rappardus soll Hendrick ins Winckeltgen zu mehrer Gottseeligkeit ermahnen und den Sohn ansprechen warumb er sich zu den Widderteuffern geschlagen.“

Wenn der Hausfrieden gestört war, vermittelten die Presbyter die Versöhnung. So war dies der Mutter mit der Ehefrau von Jan Schmit ergangen. Denn nachdem sie vor den Presbytern erschienen waren, hatten sie sich „miteinander versöhnet und Hände gegeben.“ 8

Der regelmäßige Kirchgang hatte in den reformierten Gemeinden eine starke Bedeutung, weil nur im Gottesdienst der versammelten Gemeinde das biblische Wort dominierte. Zudem gipfelte die Zucht im öffentlichen Ausschluss der »Unwürdigen« vom Abendmahl.

3. Der Umgang mit Frauen und der Vorwurf der Hurerei

Beschreibung der Weseler Judenhochzeit 1617
von Arnold von Anrath

Das Presbyterium hatte den Anspruch, über das gottgefällige Leben nach den reformierten Glaubensgrundsätzen und den untadeligen Lebenswandel der Stadtbewohner zu wachen. Im Fokus der Besprechungen stand immer wieder das Verhalten von Frauen, die von Natur aus als unzulänglich und leicht durch den Teufel verführbar galten. Ledige Frauen und Witwen hatten in der Stadtgesellschaft eine schwache Position, vor allem, wenn sie keine Bürgersfrauen waren. Das Presbyterium konnte von allen Bürgern und Einwohnern angerufen werden. Damit konnten sich die reformierten Frauen wie auch Männer Gehör hinsichtlich ihrer Nöte verschaffen, die in wichtigen Fällen dann auch der Obrigkeit, also dem Stadtrat, zu Ohren kamen. Elementare Regeln des Zusammenlebens und der inneren Ordnung der Stadtgemeinde konnten so in christlichem Sinne befördert werden, wie sich aus einigen Konflikten exemplarisch ersehen lässt:

Schnell kam der Verdacht auf, dass eine Frau eine Hure sein könnte, weil sie als Unverheiratete Kontakte zu einem Mann hatte. Oftmals entpuppte sich der Vorwurf jedoch als eine ernsthafte Liebesbeziehung, die noch nicht durch eine Heirat legalisiert worden war, weil etwa die Eltern des Mädchens eine solche Ehe ablehnten oder der zukünftige Ehemann noch kein ausreichendes wirtschaftliches Auskommen hatte. Dem Presbyterium gelang hier häufig eine Vermittlung, so dass einer Eheschließung schließlich nichts mehr im Wege stand.

Es gelangten auch Fälle vor das Presbyterium, in welchen Frauen von ihren Ehemännern verprügelt oder schlecht behandelt wurden. Man befragte dann zumeist die Nachbarn als Zeugen. Es wurden Mitglieder des Presbyteriums damit beauftragt, nähere Erkundigungen einzuholen. Ein anderer Grund zur Klage waren Ehemänner, die ohne deren Einverständnis ihre Frauen verließen und in eine andere Stadt zogen, um dort zu arbeiten. Die Frauen gerieten so in eine sozial prekäre Situation, in welcher sie ihre Ehre schlecht behaupten konnten. Dazu kam auch existentielle Not, denn sie waren gezwungen, allein ihr tägliches Brot und das ihrer Kinder zu erwerben.

Weitere Klagen von Frauen waren, dass ihre Ehemänner sie zur Prostitution mit den spanischen Soldaten zwingen würden. Anderen wurde unterstellt, dass sie sich freiwillig prostituierten. Im Jahr 1617 soll sogar das gesamte Haus eines Mannes namens Helmich Briggs ein Hurenhaus gewesen sein, so dass wegen nächtlichen Lärmens und Rumorens von „Huren und Buben“ der ganzen Nachbarschaft Angst und bang geworden sei. Mehrere Zeugen und selbst der Stadtschmied Meister Jan Pylgrum bestätigten dies. Die Ehefrau Briggs gab die Vorwürfe zu. Aber sie denunzierte in diesem Zusammenhang auch einige Männer: So habe der Sporenmacher ihr angeboten, ihren Sohn umsonst sein Handwerk zu lehren, wenn sie ihm zu Willen sein wolle. Aber dazu kam es nicht; er sei „ihres Leibs nicht mächtig“ geworden. Das Presbyterium ermittelte mehrere Wochen lang und hegte den Verdacht, es könne sich auch um eine Nachbarschaftsstreitigkeit handeln. Der Magistrat wurde ebenfalls eingeschaltet, vor welchem der Fall auch zur Sprache kam. Das Presbyterium wie der Stadtrat sprachen sich schließlich dafür aus, dass sich alle vertragen sollten.9

Der Verdacht, dass die Prostitution um sich greife, konnte schnell in Umlauf gebracht werden, wie das Beispiel zeigt, und verschiedene, schwer kontrollierbare Weiterungen nach sich ziehen. Als eine „Hure“ gescholten zu werden, war eine schlimme Beleidigung für eine Frau. War eine gütliche Einigung unter den Kontrahenten nicht erfolgreich, so erhoben die Betroffenen oftmals eine Injurienklage vor dem Magistrat. Die Verletzung der Ehre einer Person war eine Beschädigung ihres sozialen Kapitals (Pierre Bourdieux) und konnte daher nicht einfach hingenommen werden.

Ein besonderer Fall, der vor das Presbyterium gebracht wurde, betraf 1617 die Ehefrau eines Mannes namens Jurrien. Diese habe in der Beginenstraße in Soldatenfrauenkleidern debattiert und solle dies künftig unterlassen. Möglicherweise hatte sie sich dem Tross der spanischen Armee insofern angeschlossen, als sie mit den Soldaten Handel trieb. Da es noch keine stehenden Heere gab, waren Frauen und Kinder, Metzger und Bäcker, Handwerker und Wundärzte sowie vielfältiges Dienstpersonal im Tross des Heeres immer dabei. Für die innere Ordnung sorgte ein besonderer Offizier, bezeichnenderweise „Hurenweibel“ genannt, der immer bei den Marketendern logierte.

4. Die Haltung gegenüber der spanischen Besatzungsmacht

Wartende Prozession zur Inbesitznahme der Willibrordikirche durch die Katholiken 1628

Während des 80-jährigen Krieges, in welchem sich die Republik der Vereinigten Niederlande die Unabhängigkeit von der spanischen Krone erkämpfte, war die Stadt Wesel seit 1586 mehrfach von spanischen Truppen belagert worden. In den Jahren 1614 bis 1629 erfolgte eine kontinuierliche Besetzung, was bedeutete, dass viele Weseler Haushalte Einquartierungen hatten. Den Quartiergebern wurde oftmals übel mitgespielt. Wertgegenstände, Wäsche und Vieh, ja alles, was die Soldaten gebrauchen konnten, nahmen sie an sich. Sie misshandelten ihre „Gastgeber“ teilweise, und gegenüber Frauen übten sie nicht selten sexuelle Gewalt aus. Eltern klagten häufiger vor dem Presbyterium, ein einquartierter Spanier habe ohne ihr Wissen eine Beziehung zu ihrer Tochter angefangen.

Es ist aber ebenso wahrscheinlich, dass sich bei langen Einquartierungen mit der Zeit vertrauliche Beziehungen ergeben haben, so dass junge Frauen auch freiwillig so gehandelt haben werden. Witwen gerieten ebenfalls in den Blick: So sollte die Ehefrau des verstorbenen Jürgen Wegener vor das Presbyterium geladen werden, weil sie im Gerücht stand, einen Spanier heiraten zu wollen, was verhindert werden sollte. Nicht nur, dass die spanischen Soldaten im Ruf standen, besonders grausam zu sein, sondern auch, dass sie katholisch waren und ihren Glauben demonstrativ praktizierten, waren Gründe genug für die Ablehnung durch die reformierte Gemeinde.

So wandte sich Herr Spickermann im April 1617 an das Presbyterium mit der Bitte, es möge beim Stadtrat für ihn vorsprechen, da es ihm wegen seines hohen Alters nicht möglich sei, die Einquartierung von Soldaten zu erdulden. Diese setzten ihm und seiner Frau hart zu und versuchten, sie von ihrem Glauben abzubringen.

Dem Magistrat wurde häufig zur Last gelegt, für die Einquartierung der Soldaten verantwortlich zu sein, obwohl ihm keine Wahl blieb. So klagte Johan Hopman 1615 darüber, dass er einen Soldaten zur Beherbergung bekommen habe und lastete dies dem Magistrat an.10 Die Stadtbewohner empfanden die Einquartierungen als schwere Belastung, obwohl dies ein allgegenwärtiges und altbekanntes Vorkommnis war. Das Verhalten der Soldaten war auch von den jeweiligen Offizieren abhängig; deren Gleichgültigkeit beförderte das tyrannische Verhalten der Soldaten gegenüber den Stadtbewohnern. Weiter spielte das Ausmaß der Versorgung und Verpflegung eine Rolle. War sie hinreichend, so wurde zumeist weniger geplündert und geraubt. Dies, so der Eindruck, schien dem Weseler Magistrat klar vor Augen. Durch die halbwegs erträgliche Behandlung der Soldaten konnten Unruhen in der Stadt vermieden werden. Aber dafür war ein sehr hoher Preis zu bezahlen, denn die Ernährung und Versorgung der Bewohner musste dahinter zurückstehen. Letztlich hatten der Stadtrat und auch die Bewohner keine Wahl.

Dass die Stadtbevölkerung auch schreckliche Gräueltaten mitbekam, die mit den Kriegshandlungen zusammenhingen, zeigt eine Beobachtung Gerhard Bucholts aus dem Jahr 1615, die er erst drei Monate nach dem Geschehnis, das er beobachtet hatte, vor dem Presbyterium äußerte: Er sei an einem Samstagabend zu Meister Tilman, dem Zimmermann, gegangen, der am Stadtfriedhof wohnte. Dort habe er gesehen, dass ein „großes Fußvolk“ die ganze Niederstraße entlang und auch auf dem Kirchhof gestanden habe. Als er später, nach 10 Uhr, aus dem Haus gekommen sei, seien diese Menschen alle erschlagen gewesen, und es habe alles voll Reiterei gestanden. Es ist unwahrscheinlich, dass die Bewohner des Hauses nicht mitbekommen haben, was vor ihrer eigenen Tür geschah. Es könnte sein, dass die Erschlagenen feindliche Soldaten der Generalstaaten waren, die im Umkreis der Stadt durch die Spanier aufgegriffen worden waren. Möglicherweise wurden sie als Zeichen einer Machtdemonstration und Einschüchterung gegenüber den Stadtbewohnern getötet. Gerhard Bucholts wurde vom Presbyterium ermahnt, sich in dieser Angelegenheit als ein Christ zu verhalten, der nichts auf solche Sachen geben solle. Sein Drang, sich das Vorkommnis drei Monate später „von der Seele“ zu reden, zeigt jedoch, sehr menschlich, seine Angst und seine Verstörtheit.

Die Presbyteriumsprotokolle liefern, wie die angeführten Beispiele zeigen, zahlreiche Anhaltspunkte dafür, dass das Zusammenleben zwischen den Besatzern und Bewohnern Wesels differenziert betrachtet werden muss.

5. Das Verhalten gegenüber Juden

Pestordnung vom 16. April 1524, die alle wichtigen Elemente
späterer Ordnungen enthält

Mehrere Eintragungen in den Presbyteriumsprotokollen zeugen von dem Zusammenleben und der Einstellung gegenüber Juden in der Stadt. Mehrfach wurden 1624 und 1625 Gemeindemitglieder ermahnt, ihre Häuser nicht an Juden zu vermieten. Es hieß mehrfach, es sei wieder ein „neuer Jude“ in die Stadt gekommen. Es wurde auch thematisiert, wie der „Judenvermehrung“ in der Stadt Einhalt geboten werden könne. In den Jahren zuvor waren solche Vorkommnisse nicht im Presbyterium besprochen worden.

Weiter wurde vorgebracht, dass sich Jüdinnen in einem Brunnen reinigen würden, der sich in der Nähe des Schufwagen befand, weshalb dieser ermahnt werden sollte. Offensichtlich handelte es sich hier um eine rituelle Reinigung der Jüdinnen, wie sie etwa in einer Mikwe vorgenommen wurde.

Ein Schufwagen war zunächst eine Schubkarre, die für die vielfältigen Kleintransporte in der Stadt benutzt wurden, und offensichtlich trug der Betreiber dieses Fuhrparks, mit Vornamen Rutger, diesen Namen, der über seine Tätigkeit Aufschluss gab.

Zwei reformierte Gemeindemitglieder wurden damit beauftragt, sich zu erkundigen, ob in Häusern von Juden sonntags – dieser Tag ist kein jüdischer Feiertag - Kleidung gewaschen werde. Das wäre eine Störung der Sonntagsruhe gewesen, die nicht geduldet werden konnte.

1625 wurde beschlossen, diejenigen Bürger abzumahnen, die gemeinsam mit den Juden „Wucher“ trieben – waren es Vorurteile, die hier ausgesprochen wurden, oder verbargen sich dahinter von Juden und Reformierten gemeinsame, einträglich abgewickelte Geschäfte? Ein Jahr später wurde vermerkt, dass sich in der Stadt mehr und mehr Juden aufhalten würden, die allerlei gestohlene Güter ankaufen würden. Deshalb solle der Stadtrat eingeschaltet werden. Sicher sind in den Magistratsprotokollen weitere Hinweise überliefert.

Aufschlussreich war das Ergebnis einer Diskussion im Jahr 1626, in welcher das Presbyterium gegenüber der spanischen Besatzungsmacht darauf bestand, den Gemeindemitgliedern das Begräbnis nach dem eigenen, reformierten Ritus zu gewähren. Geschehe dies nicht, dann würden „die lieben Toten wie Juden, Türken oder unvernünftige Thiere oder Übeltäter behandelt.“ 11 Diese negative Einschätzung von Juden spricht für sich und braucht nicht weiter kommentiert zu werden.

Bei der Eroberung Wesels durch die Niederländer im Jahr 1629 sollen die Häuser, die von Spaniern bewohnt wurden, diejenigen von Juden sowie einige Klöster geplündert worden sein. Damit seien die Soldaten, die bei der Eroberung der Stadt beteiligt waren, genügend entschädigt worden – so berichtet es das „Westphälische Magazin zur Geographie, Historie und Statistik aus dem Jahr 1787“ auf der Grundlage älterer Quellen.12 Zur Auffindung dieser Häuser benötigten die Soldaten Menschen mit Ortskenntnis – somit hatte sich mancher (reformierte) Weseler hier vermutlich als Denunziant betätigt.

Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts waren in Jülich-Kleve-Berg gegen den Widerstand der Stände vermehrt Juden aufgenommen worden, nachdem sie seit den Pestpogromen um 1350 vertrieben worden waren. Sie brachten bisher unbekannte Bräuche mit (möglicherweise aus dem Osten), wie sich dies einer Beschreibung des Weseler Bürgers Arnold von Anrath aus dem Jahr 1617 entnehmen lässt, die hier ergänzend hinzugezogen werden soll. In diesem Jahr fand eine jüdische Hochzeit in Wesel statt, zu welcher mehr als 200 Juden gekommen waren. Die Hochzeit wurde in einem Gebäude am Fischertor gefeiert. Schon mehrere Tage vor der Trauung sei in diesem Haus getanzt und wunderlich gesprungen worden, dazu habe ein Heulen und Singen stattgefunden, das weithin hörbar gewesen sei und wie man es von den „alten Juden“ bisher nicht gekannt habe. Die Braut sei verhüllt gewesen, und der Bräutigam habe sie erst nach der Trauung zu sehen bekommen.

Die Vermählung selbst habe auf der Festung in der Nähe unter dem „blauen Himmel“, also draußen, stattgefunden, deshalb konnte wohl alles so genau beobachtet werden. Die Braut habe als Geschenk einen großen Sack bekommen, in welchem 14 goldene Ringe und etliches Geld gewesen sei. Dies alles sei auch genau verzeichnet worden. Der Bräutigam musste schließlich mit einem Geschirr nach einem Ziel werfen. Wenn er es verfehlen würde, so dürfe er einen Monat lang den Beischlaf mit seiner Angetrauten nicht vollziehen. Aber, so Anrath mitfühlend, er „hatte daß Mahl getroffen, welches ihm geluckt und daß Beyschlafen erhaltten“.13

1666 kam das Herzogtum Kleve endgültig zum Kurfürstentum Brandenburg, 1672 rückten die Truppen der Generalstaaten schließlich ab. Brandenburg-Preußen ließ nun die gezielte Anwerbung von Juden zu, die mit Schutzbriefen ausgestattet wurden. Elias Gompertz aus der Stadt Kleve war 1661 als erster Hofjude des großen Kurfürsten ein wichtiger Geldgeber für diesen geworden. Sein Sohn Kosman heiratete 1673 in der Stadt Kleve, nur wenige Kilometer von Wesel entfernt, Zipora, eine Tochter Glückel von Hamelns. Glückel beschrieb diese Hochzeit ausführlich in ihren Memoiren. Die zahlreichen Gäste, darunter viele von Rang und Namen, sahen der Trauung von Braut und Bräutigam unter dem Trauhimmel mit großem Interesse zu. Auch das übliche Zuzählen der Mitgift vor den versammelten Gästen wurde von Glückel thematisiert. Ein Vergleich dieser Beschreibung mit der der zuvor skizzierten Weseler Hochzeit bietet sich an, die aufgrund ihres Aufwands ebenfalls unter wohlhabenden Juden stattgefunden haben musste. Die Hochzeit Zipora von Hamelns war durch den Ehemann Glückels, der wiederholt in Amsterdam, der zu dieser Zeit führenden Handelsstadt Westeuropas, Geschäfte tätigte, ausgehandelt worden.14

Das Fremdsein der Juden wurde durch die unbekannten Rituale, die hier beschrieben wurden, sicher noch verstärkt. Da schon die katholischen Prozessionen und Heiligenverehrungen Abscheu bei den Reformierten hervorriefen, da sie dies als Abgötterei bezeichneten, waren ihnen jüdische, rituelle Verhaltensweisen ebenfalls suspekt. Der zur Schau gestellte Reichtum bestätigte vermutlich viele der Vorurteile, die Juden gegenüber bestanden.

Festzuhalten bleibt, dass die Presbyteriumsprotokolle als Quellen zur Erforschung der Geschichte der Geschichte der Juden in der Frühen Neuzeit unter dem Aspekt ihrer sozialen Stellung und ihrer Situation im Alltag in Betracht gezogen werden können.

6. Der Umgang mit Katholiken und Lutheranern

Sterbebuch der Willibrordi-Gemeinde, August 1657: Am 31. August starben vor allem an der
Pest 17 Personen; im ganzen Monat August waren es 474 Tote in der Willibrordikirche
und 1015 in der Mathenakirche.

Waren die Reformierten die dominierende Konfession, so gab es noch kleine Gruppen von Lutheranern wie auch Katholiken in Wesel.

Die Jesuiten waren im Sinne der Gegenreformation tätig, und das Presbyterium beobachtete argwöhnisch deren Tätigkeiten. Die Furcht, dass reformierte Gemeindemitglieder nicht fest genug zu ihrem Glauben standen und abtrünnig wurden, beschäftigte dieses Gremium immer wieder.

Henrich Tempelmann wurde im Jahr 1615 verdächtigt, von den Jesuiten bekehrt worden zu sein. Er äußerte zu seiner Rechtfertigung, dass ihm diese nur einen Brief seines Sohnes aus dem niederländischen Harlem mitgebracht hätten. Er stehe fest zu seinem reformierten Glauben. Arnold von Anrath bezeichnete die Jesuiten 1616 in seiner Chronik als „geistlos“ und beschrieb, dass sie mit vielen anderen Spaniern, Männern wie Frauen, von ihrem Kloster aus zu einer Prozession ausgezogen seien. Die Männer seien mit weißen Laken oder Hemden bekleidet gewesen, hätten eine Art hohen, spitzen „Tabernakel“ auf ihrem Kopf gehabt und ein Kreuz aus Silber sowie Kerzen in den Händen gehalten. Ein Kreuz mit einem großen, nackten, von Menschen gemachten hölzernen Gott hätten sie auf den Schultern getragen, ebenso eine Figur der „lieben Frau“ (Maria). Dabei hätten sie während des ganzen Weges, den die Prozession zog, auch noch Musik „gesungen“. Ganz offensichtlich handelte es sich hier um Karfreitags- bzw. österliche Zeremonien.15

Auch in den Presbyteriumsprotokollen wurden die Heiligenfiguren häufiger erwähnt. Eine Witwe wurde bezichtigt, an verschiedenen Orten vor den „stummen hölzernen Abgöttern“ auf die Knie gefallen zu sein, wofür sie gestraft werden sollte. Im Juni 1615 warnte das Presbyterium davor, dass am kommenden Sonntag wieder einmal eine „Spiegelfechtung mit dem Götzen“ angerichtet werde. Alle Bewohner wurden von den Kanzeln herab daher aufgefordert, sich ruhig zu verhalten. Wenn sich die Gelegenheit bot, wurden Heiligenfiguren im städtischen Auftrag oftmals auch zerstört.

Im Jahr 1616 wurde eine junge Frau von ihrem Mann, der ein“ gottloser Gesell“ sei, dahingehend beeinflusst, dass sie bereits das dritte Mal ihre Kinder in der „päpstlichen Kirche“ habe taufen lassen. Diesem sollte durch die Tätigkeiten der Diakonen entgegengesteuert werden. Bald darauf standen die Witwe des Fruntrop und ihre Tochter im Verdacht, zum „Papsttum“ übertreten zu wollen, was durch „christliche Vermahnung“ und „Strafpredigten“ verhindert werden sollte.

Solche Klagen wurden auch in den folgenden Jahren immer wieder thematisiert. Sie verweisen darauf, dass die Verschiedenheit der neuen Konfessionen längst nicht für alle Christen so klar erkennbar war, wie es auf den ersten Blick scheint. Zweifel daran, althergebrachtes „über Bord“ geworfen zu haben, wurden durch die Gegenreformation bei manchen sicher befördert. Der Katholizismus war im Sinne einer Volksfrömmigkeit bei vielen Menschen verankert gewesen. Die Christus- und Heiligenverehrung, die sich in Prozessionen äußerte, die Bildgestaltung in den Kirchen und der Ritus der Gottesdienste bestärkte manche Menschen sicherlich in ihren katholisch ausgerichteten Frömmigkeitserfahrungen. Dazu kam auch die Tradition: Waren Eltern oder Großeltern katholisch getauft gewesen, war eine Taufe nach reformiertem Ritus ein eklatanter Bruch mit der Vergangenheit. Die Frage nach der Ausgestaltung der Taufe durchzog daher auch die Besprechungen des Presbyteriums über eine Reihe von Jahren.

Auch die Besatzer und die damit verbundene katholische Seite versäumte keine Gelegenheiten, ihre Ablehnung des Protestantismus zu zeigen. So hielten die Presbyteriumsprotokolle am 18. Januar 1616 fest, dass es einen Skandal in der Kirche gegeben habe, weil die Kanzeln verunreinigt worden und tote Katzen angehängt worden seien. Auch Anrath berichtete dies in seiner Chronik: Man habe eine tote Katze mit dem Kopf am Predigtstuhl aufgehängt. Das Seil dazu habe man von den Glocken abgeschnitten. Außerdem habe man drei oder vier Fäkalienhaufen („Heuffe gescheiffen“, „Menschen Koth“) um die Kanzel herum deponiert.16 Der Katholizismus, in den Protokollen immer wieder als „abgöttisches päpstliches Wesen“ bezeichnet, verängstigte und verunsicherte die Reformierten zutiefst, da er nicht ihren Vorstellungen eines Lebens nach dem Evangelium entsprach – und umgekehrt war es genauso.

Neben der Ablehnung von Bildern lehnten die Reformierten auch die Musik sowie Tanz und Spiel vehement ab. Besonders argwöhnisch wurden Hochzeitsfeiern betrachtet, denn auch zu solch einem fröhlichen Anlass sollte keinerlei Ausgelassenheit gezeigt werden. Dies stieß ganz offenkundig nicht auf Gegenliebe bei den Gemeindemitgliedern. Jedenfalls wurden häufig Verstöße dagegen im Presbyterium besprochen. 1626 stellte sich heraus, dass auf der Hochzeit des Peter Comberg Musik gespielt wurde, obwohl der Organist dies gar nicht gewollt habe. Ein anwesender Gast habe aber mehrfach auf die Orgel geschlagen, um das Spielen zu erzwingen. Da dadurch Gefahr bestanden habe, dass das Instrument zerschlagen werde, habe der Organist schließlich nachgegeben und doch gespielt. Es waren auch Angehörige der lutherischen Konfession als Gäste anwesend. Diese hätten sowie tanzen dürfen; nur den Calvinisten sei es ja verboten.

Nicht nur das Presbyterium, auch der Magistrat vertrat den Calvinismus. Als 1629 die spanische Besatzung vertrieben wurde und die Niederländer an ihre Stelle traten, stand seiner völligen Durchsetzung kaum noch etwas im Wege. Ab 1632 konnten etwa nur noch Reformierte das Weseler Bürgerrecht erwerben, mit welchem auch das Wahlrecht zum Magistrat und der Zugang zu den Zünften verbunden war. Dies bedeutete eine völlige Ausgrenzung von Katholiken und auch von Lutheranern, die erst 1681 durch ein neues „Kleinbürgerrecht“ für diese Gruppen gemildert wurde.

7. Die Versorgung von Kranken und Waisen

Das Waisenhaus in der Brüderstraße in der Brüdergasse (Vordergrund); dahinter die
Dominikanerkirche St. Mariä Himmelfahrt.

Aus den Presbyteriumsprotokollen sowie den Weseler Edikten lassen sich Bestimmungen und Komponenten für eine Fürsorgeinfrastruktur zugunsten Kranker sowie Waisen erkennen. Dabei handelt es sich jedoch nicht um gewöhnliche Kranke oder fremde elternlose Kinder, sondern um Kranke der Pest, der Roten Ruhr oder anderer Krankheiten. Die elternlosen Kinder waren in der Regel junge Weseler Vollwaisen reformierten Glaubens.

Seitdem Wesel von den Spaniern besetzt wurde, war Don Juan de Gonzalez der Gouverneur. Auf dessen Geheiß wurde im Jahr 1615 eine Pestordnung erlassen, die im Jahr 1624 erneuert wurde. Bereits im 16. Jahrhundert hatte die Stadt Wesel Pestordnungen erlassen und mit deren Auswirkungen Erfahrungen sammeln können. Noch lange nach dem Ende der Spanischen Besatzung zu Wesel (1629) stellte der Rat der Stadt jeweils Ordnungen für das Verhalten bei der Pest auf, z. B. im Jahre 1656.

In Bezug auf die mit dem Schwarzen Tod infizierten Einwohner Wesels wurde nun mehr auf die Isolation Pestkranker als auf den emotionalen Konnex von Pest und Glaube eingegangen. In der Forschung wird der Umgang mit Pestkranken in der Regel folgendermaßen skizziert: 17 Zuerst wurden Infizierte ohne spezielle Maßnahmen behandelt und gewöhnlich bestattet. Ihre Wohnhäuser wurden zumeist mit einem Kreuz markiert, und sie mussten zwangsweise aus der Stadt ziehen. Je höher die Zahl der Toten wurde, desto mehr Angst verbreitete sich, was die Versorgung der Kranken erschwerte, da die Familie und Freunde die Hilfe verweigern konnten. Dann, nachdem immer mehr Menschen in ganz Europa verstorben waren, wurde entschieden, die Isolation der Erkrankten einzuführen, damit die Verbreitung der Pest aufgehalten wurde. Immer wieder bemühte man sich, die Ursachen für diese schreckliche Krankheit zu ergründen. So nahmen während der Pestepidemien zwischen 1423 und 1630 in Venedig die Venezianer eine Verknüpfung von Pest mit der Seefahrt an, weshalb Personen aus Regionen der Pest nach ihrer Ankunft in der Stadt für 40 [„quaranta“] Tage unter Beobachtung standen. Quarantäne steht für diese Isolationszeit.

Wesel ging sehr ähnlich, aber im Detail doch ganz anders mit Pestkranken in der Stadt um. Vor den zwei Pestverordnungen ist nicht zweifelsfrei zu klären, wie die Behandlung der Pest von (Wund-) Ärzten ablief und wie die Bestattung der Toten durch Totengräber besorgt wurde.18 Den Pestordnungen zufolge wurden die Wohnhäuser der Infizierten mit einem Kranz aus Stroh gekennzeichnet; sie durften für 40 Tage ihren Beruf nicht ausüben, und sie mussten in ihren Häusern bleiben. Nur Verwandten, Nachbarn und Krankenbesuchern war erlaubt, die von der Pest betroffenen Häuser zu betreten, sodass das Versorgen mit Medizin, Lebensmitteln gewährleistet war. Einzige Ausnahme zum Verlassen der Quarantäne war der Empfang der Hostie in der Kirche. Wenn Pestkranke am Abendmahl teilnehmen wollten, dann war festgelegt, dass sie in der Mathena-Kirche, aber keinesfalls im Willibrordi-Dom, am Gottesdienst teilnehmen durften. Pestkranke, welche die angeordnete Isolation verließen, und Totenträger, welche mit ihrer Beerdigung beauftragt waren, mussten auf der Straße den weißen Stock in der Hand halten.19

Die Forschung kommt zumeist zu dem Schluss, dass für die Menschen die Krankheiten eine Strafe Gottes waren. Deswegen intensivierte sich die praktizierte Religion während der Pest, wie katholischerseits die Heiligenverehrung, Wallfahrten, Selbstgeißelung als Buße oder die Erwerbung von Ablässen zum Freikaufen von Sünden. Weitere Methoden, die Frömmigkeit zu bezeugen, konnten das Erzählen von Sagen, das Anbeten des Kreuzes, das Empfangen der Hostie und das Teilnehmen an Prozessionen sein.

Für Wesel entfielen diese typisch katholischen Frömmigkeitsbezeugungen, insbesondere die Heiligenverehrung, Wallfahrten, Ablässe, das Teilnehmen an Prozessionen mitsamt Monstranz und der konsekrierten Hostie, wenn auch manche Stadtbewohner, die sich dieser Religion noch nahe fühlten, bedauern mochten. Jedoch vertraten Calvinisten im gesteigerten Maße die katholische Sonntagspflicht, wenn sogar Pestkranke das Kirchengebot zum Besuch der heiligen Messe einhalten konnten und sollten, was von einer tiefgehenden Fürsorgepflicht zeugt, der die Bedenken wegen einer Verbreitung der Krankheit durch Ansteckung entgegenstehen musste. Es ist wahrscheinlich, dass die Reformierten mit den aus ihrer Sicht andersgläubigen Katholiken und Lutheranern den Brauch Danksagung für das Ende der Pest (1657) gemein hatten und alle hierin einschlossen: „Befehlen demnach allen dieser Statt Bürgern und Eingesessenen / daß sie obg. Donnerstag mit nachlassung allerhand arbeit / die Predigten gebührend besuchen / und dem gütigen GOTT für solche seine unüberschwenckliche barmhertzigkeit und gnade nicht allein von hertzen dancken / sondern auch seine Göttliche Mayst: embsig bitten sollen / Daß dieselbe die straffruhte und alles unheil von dieser Statt und Gemeine ferner gnedig abwenden wolle.“ 20

Wie sich zeigte, raffte die Pest entweder ganze Familien dahin. Manchmal starben auch nur die Eltern. Dann hatten zwar die Kinder überlebt, aber in Zukunft waren sie immer allein auf sich gestellt und benötigten Unterstützung. Für diesen Fall der verlassenen Kinder hatte die Stadt Wesel einige Ordnungen erlassen, welche die Waisen einschlossen, wie die Armenordnung von 1614, eine Waisenordnung (ohne Datum) und die Vormundschaftsordnung (1673).

In Bezug auf Waisen soll kurz auf das Waisenhaus im Unterschied zu den Gasthäusern eingegangen werden. Das städtische Waisenhaus in Wesel existierte getrennt von Armenhospitälern und Gasthäusern ausschließlich für reformierte elternlose Kinder. Die Waisenordnung enthielt Richtlinien für den Provisor (den Waisenmeister), den Waisenvater und die -mutter und die Waisen selbst. Jedes der vier Weseler Quartiere (Steinport, Viheport, Lew Port, Cloisterport) stellte einen oder mehr Presbyter für das Inspizieren des Waisenhauses ab, das der Visitation unterlag.21 Laut der Waisenordnung war der Besuch des Waisenmeisters sowohl allein als auch in Begleitung von zwei Ältesten zur Bestandsaufnahme und zur Normenkontrolle geregelt. Wesels Presbyterium war Bericht zu erstatten; Veränderungen waren in dessen Auftrag zu leisten. Die Waisenordnung legte den Zugang, die Versorgung und die Perspektiven im Waisenhaus offen: Elternlose Kinder konnten genau dann in das Waisenhaus von Wesel aufgenommen werden, wenn beide Eltern gestorben waren, die Eltern die bürgerlichen Pflichten getragen hatten und das Alter der Vollwaisen nicht jünger als vier Jahre und nicht älter als zehn Jahre sein sollte.22 Waisen, die unehelich, blind, lahm, krank (Pocken, Fallsucht), gebrechlich, behindert waren, wurden nicht aufgenommen oder später ausgeschlossen und dann nicht wieder zugelassen. Höchstens zweiunddreißig elternlose Kinder konnten im Waisenhaus untergebracht werden, was von Spenden aus der Gemeinde finanziert wurde sowie vom Erbe eigener Eltern abhing. Zur Mildtätigkeit wurde ständig aufgerufen, elterliches Vermögen wurde teils eingezogen. Von diesen Finanzmitteln in Verwaltung des Provisors wurden die drei Mahlzeiten am Tag, inklusive zusätzlicher Rationen für die Schule oder auch bei dem Erlernen eines Handwerks, sowie die Herausgabe von Kleidung für Mädchen und Jungen als laufende Ausgaben bezahlt. Elternlose Kinder konnten im Weseler Waisenhaus bis zum sechzehnten Lebensjahr bleiben, wo sie in der Schule lesen, schreiben und rechnen lernen sollten.

Nach dem Schulabschluss und nach der Beratung der Visitatoren sollten die Waisen in Berufen ausgebildet werden. Auf diese Weise sollten sie, so das Ziel, ihren Lebensunterhalt binnen kurzer Zeit selber verdienen. Diejenigen Waisen, die in einem Beruf standen, sollten frei von Zunftverpflichtungen sein, solange diese im Waisenhaus wohnten und sie mit Hilfe des Waisenhauses versorgt wurden. Löhne vom Spinnen und Nähen gaben sie dem Provisor zur Verwendung im Waisenhaus ab.

Alle Gasthäuser in der Stadt Wesel waren ausdrücklich nicht für elternlose Kinder gedacht. Diese klare Unterscheidung wurde in der Armenordnung (1614) deutlich erkennbar, die für Provisoren und Diakone das Verhalten zum Einsammeln und Austeilen der Almosen regelte.23 Ein eindeutiger Unterschied war die begrenzte Dauer in der Unterbringung von einer Nacht. Dafür musste beim Gasthausmeister, im Heiliggeist-Gasthaus, ein Zeichen vorgelegt werden, das derjenige zuvor beim Provisor abholen musste, der für eine Nacht dort schlafen wollte. Im Heiliggeist-Gasthaus waren zwei, drei Kammern mit möglichst guten Betten vorbereitet, um dort Männer und Frauen, Eheleute mit Kindern, aber jeder getrennt, unterzubringen. Der Rat behielt sich das Recht vor, bei Bedarf im Heiliggeist-Gasthaus für Ordnung zu sorgen, falls die Disziplin nicht eingehalten wurde, da wohl häufiger Streitereien, Gezänk und Schlägereien ausbrachen. Diese Funktion im Sinne der guten Policey durch den Rat ist aber nicht zu verwechseln mit den regelmäßigen Visitationen des Waisenhauses in der Stadt, die von den Ältesten eines Quartiers mit durchgeführt wurden, welche sich abwechselten.

Doch nicht nur der Rat der Stadt kontrollierte die Gasthäuser innerhalb des Stadtgebietes, sondern auch reiche Privatiers setzten ihre Finanzkraft ein, um Gasthäuser zu etablieren sowie zu beaufsichtigen. Zwei ausgewählte Beispiele für die Gasthaus-Fundationen sind das in der Armenordnung bereits erwähnte Hiob-Gasthaus und das Alysleger-Gasthaus. Bevor auf beide Gasthäuser eingegangen wird, soll hier noch kurz auf die Variationsbreite der Aufgaben dieser privaten Gasthaus-Fundationen eingegangen werden: das Unterbringen und Versorgen von älteren Bedürftigen; der Unterhalt von Armen getrennt im Männerhaus oder Frauenhaus (auch Witwen) / von Hausarmen; allgemeine Wohltätigkeit; das Fördern von bedürftigen Mitgliedern der Stifterfamilie bzw. das Unterstützen von Pflegepersonen; das Bezahlen der Hochzeitsausstattung, das heißt, im Sinne der Mitgift, für Bürgerstöchter.

Das Hiob-Gasthaus geht zurück auf die Eheleute Hermann und Drude Gossens, weil sie seit 1449 die Zahlung für den steten Unterhalt von 13 Armen übernahmen. Ihr Gasthaus war dem Schutzpatron der Aussätzigen gewidmet und zur Erinnerung an Hermann Gossens, der 1447 in Köln mit negativem Ergebnis auf Lepra untersucht wurde, eingerichtet worden. Mit dem Stiften ihres Gasthauses verfolgten sie Ziele wie den ständigen Unterhalt von Armen und das Finanzieren allgemeiner wohltätiger Zwecke in und um Wesel sowie auch das Unterstützen der Familie des Stifters. Das Alysleger- oder Bars-Gasthaus wurde bereits 1524 vom Landrentmeister des Herzogtums Kleve, Heinrich Bars, genannt Alysleger, für zwölf Männer gestiftet. Sein Sohn, Dr. Heinrich Bars, der ebenfalls Alysleger genannt wurde sowie ebenso dem Herzogtums Kleve als Rat und Kanzler diente, „erweiterte 1560 die Stiftung um ein Gasthaus für sechs Frauen, [...]. Beide Stiftungen wurden durch den alten Landesherrn finanziell unterstützt. Die neuen Landesherren, die Kurfürsten von Brandenburg, reduzierten die Zahlungen erheblich, [...]“.24 Anders als das Hiob-Gasthaus, dessen Spur sich nach dem Zweiten Weltkrieg verliert, sind später beide Gasthäuser der Alysleger in der städtischen Armenstiftung aufgegangen.

Diese Maßnahmen verdeutlichen, in welch hohem Maße das Presbyterium die Verantwortung für notleidende Menschen übernahm. Solange die Stadt Wesel sehr wohlhabend war, wie es für die ersten zwei Drittel des 16. Jahrhunderts zutraf, waren auch genügend finanzielle Mittel gerade auch privater Bürger vorhanden. In der Krisenzeit vor allem der spanischen Besetzung fehlte es jedoch nicht selten daran, wie vor allem die Magistratsprotokolle zeigen. Dennoch hatten die initiierten Maßnahmen mit Sicherheit sehr positive Einflüsse auf die Stadtbewohner, indem sie in der Zeit der spanischen Belagerung die Verantwortung von Presbyterium und Magistrat für das Gemeinwesen erkennen konnten, die eine katholische Gegenreformation in jedem Fall erschweren musste.

Über die Zeit der niederländischen Besatzung ist den Presbyteriumsprotokollen, die in der Edition auch nur die ersten Jahre umfassen, in dieser Hinsicht eher weniger zu entnehmen. Insgesamt, so ein vorsichtiger Eindruck, war das Leben in der Stadt weniger konfliktträchtig geworden – nicht zuletzt deshalb, weil die Besatzer der gleichen Konfession angehörten wie die überwiegende Zahl der Stadtbewohner und des reformierten Magistrats.

8. Exkurs: Das katholischen Presbyterat [die Priesterweihe] und sein Amt in der kirchlichen Organisation heute

Das Alysleger-Gasthaus in der Torfstraße,
1524 vom Stifter erbaut.

Der Begriff des Presbyters hat, wie bereits gezeigt wurde, viele Bedeutungen, weshalb es sinnvoll ist, diese im Einzelnen und getrennt voneinander zu behandeln. „Presbyter“ bezeichnet zunächst generell ein Leitungsamt in heterogenen christlichen Konfessionen. Auch in der Katholischen Kirche spricht man von Presbytern. Begrifflich sind diese mit dem Amt des Priesters als zweiter Stufe des dreistufigen Weihesakramentes gleichzusetzen – zum Handeln im Namen Christi. In der Evangelischen Kirche wirken dagegen auf allen Ebenen die Laien (Presbyterinnen, Presbyter) mit Ordinierten in allen Leitungsorganen der Kirchengemeinde gleichberechtigt zusammen. In der Evangelisch-Reformierten Kirche bilden Pastor und Älteste (Presbyter), ausgehend von Calvins Vierämterlehre, die Gemeindeleitung – die Kirchenzucht obliegt nur den Presbytern. Wie am Beispiel Wesels deutlich wurde, grenzt sich die letzte – auch heute noch - somit von den beiden anderen Kirchen ab.

In der Katholischen Kirche wird heute um das kirchliche Amt des Priesters hart gerungen – nicht zuletzt aus Gründen eines gravierenden Priestermangels in Westeuropa. In den herrschenden Auseinandersetzungen wird sowohl der Ansatz des Christomonismus als auch derjenige des Kirchenbeamtentums verworfen, um den Glauben nicht mit der Ideologie zu verwechseln und zu vermischen. Stattdessen wäre ein Weg zur Bestellung der Priester denkbar und möglich, der das Prinzip einer patristischen Kirche unter Vermeidung von Christomonismus und Kirchenbeamtentum reaktiviert. Dazu gibt es differenzierte Stellungnahmen katholischer Theologen. Einige davon sollen nachfolgend kurz angesprochen werden.

Der zeitgenössische Theologe, Pater Hervé Legrand O.P., forscht in den Bereichen Ekklesiologie und Ökumene und lehrte als Honorarprofessor am Institut Catholique de Paris. Legrand stellte in seinen Auffassungen des Klerus in der Geschichte einen Christomonismus fest.25 Eine solche Überlegenheit der Person Jesu Christi gegenüber den anderen beiden Personen der Trinität bedeutet vereinfacht, eine lineare Kette zur Aussendung von Predigern anzunehmen: Christus überträgt seine Vollmachten auf Petrus, Petrus mit den Aposteln leitet seine Bevollmächtigungen weiter auf die Bischöfe und Priester. Bischöfe und Priester übertragen die Heilslehre dann auf weitere Christen, die dadurch geleitet werden sollen. Die Folge ist, dass die Katholische Kirche aufgrund der Trennung zwischen einer aktiven und passiven Gruppe von Christen keine Communio ist, da die Laien alles nur von den Priestern empfangen können.

Das Kirchenbeamtentum geht von einer etablierten Kirche aus und bedeutet somit, „dass das vorausgesetzte Volk Gottes nach regionalen bzw. pastoralen Kriterien aufgeteilt und mit Priester[n] «versorgt» wurde.“26 Diese Konzeption führt zwar zu verwaltungstechnischen Abläufen wie zu der Zusammenlegung von Pfarreien zur Sicherstellung von Seelsorge, aber die Bischöfe und Priester werden nicht mehr als Missionare und Evangelisten angesehen. Genau diese zwei Eigenschaften sind nach dieser Auffassung in der postmodernen Gesellschaft aber notwendig. Denn: Die Kirche hat das Evangelium zu verkünden. Wenn die Kirche aber ihr missionarisches Attribut nicht wiedererlangt, dann kann das Evangelium nicht beständig verkündet werden.

Der zeitgenössische Theologe Peter Hünermann nahm ebenfalls zu diesem Themenkomplex Stellung. Hünermann bemängelt die theologische Aufarbeitung der Entscheidungen des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965), die er als Befreiung wahrnahm. Für Peter Hünermann ist der Weg zur Bestellung der Priester das Wesentliche, um eine Veränderung im Selbstverständnis der Presbyter und der Katholischen Kirche zu realisieren. Sein Vorschlag ist die Reaktivierung des Grundprinzips der patristischen Kirche, das heißt, „dass die Gemeinden aus ihrer Mitte einen geeigneten Kandidaten zum Bischofsdienst wählten und dann die Bischöfe der Nachbardiözesen die Weihe zusammen mit dem betenden Volke vornahmen, [...]. Es galt mutatis mutandis auch für die Bestellung zum Presbyter.“27

Eine Eins-zu-eins-Umsetzung dieser Vorgehensweise wird aufgrund geänderter Verhältnisse in der Gegenwart zwar nicht möglich sein. Dennoch scheint die Reaktivierung dieses Grundprinzips im Sinne der Trinität und des Evangeliums erforderlich und durchführbar, indem etwa die Weihe der Bischöfe und Priester hinsichtlich nur einer konkreten Gemeinde gespendet würde. Die Reaktivierung des Gemeindebezugs betrifft dann nicht nur den Klerus, sondern auch jede Gemeinde selbst. Es bedarf einer „Verantwortung des Volkes Gottes in der Auswahl jener, denen grundlegende Dienste in der Kirche übertragen werden“.28

Im Kontext der Reaktivierung des Gemeindebezugs ist auch die Wiederbelebung der Debatte um die Frage nach der Priesterweihe von bewährten verheirateten Männern (viri probati) zu sehen wie etwa den Gemeinde- und Pastoralreferenten zur Fortentwicklung des „Ständigen Diakonats“. Diese damit gemeinten Männer verfügen über den erforderlichen theologischen Abschluss und die diözesane Ausbildung. Sie erfüllen Dienste „auf Anforderung und nach Auswahl durch die Gemeinden“, aber sie sind noch nicht die Vorstufe auf dem Weg zum Priesteramt.29 Solche Auseinandersetzungen werden heute weitgehend innerhalb der Katholischen Kirche geführt, während sie in der Frühen Neuzeit ein Zeichen des Ringens um den „rechten Glauben“ waren.

Eine Auseinandersetzung, die für die Zeit der Reformation bestimmend war, nämlich die um das richtige Verständnis des Abendmahls, ist für die meisten Menschen heute zumeist ebenfalls kaum mehr nachvollziehbar. Im 16. und 17. Jahrhundert lag hier eine wesentliche Differenz zwischen Katholiken, Lutheranern und Calvinisten, die bis heute hin andauert.9 Der entscheidende Unterschied lag in der Auffassung von der Realpräsenz Jesu Christi in der Wesenswandlung (Transsubstantiation) oder in der leibhaftigen Gegenwärtigkeit Jesu Christi, in der und unter „Brot und Wein“ (Konsubstantiation). Dies unterschied sich von dem „reinen Gedächtnismahl“ Jesu Christi (Huldrych Zwingli) bzw. von der „Spiritualpräsenz“ Christi im Heiligen Geist (Johannes Calvin).30 Im Laufe der Jahrhunderte näherten sich diese Auffassungen aber an, so dass es vielfach zu unierten Lutherischen und Reformierten Kirchen kam. Die Trennung zwischen Katholiken und Protestanten besteht aber weiter. Eine gemeinsame Feier des Abendmahls ist untersagt. Dies erschwert bis heute eine Annäherung zwischen beiden Kirchen.

Wenn heute in Westeuropa öffentlich, legt man die Medien zugrunde, eine Diskussion um die Katholische Kirche geführt wird, so geht es zumeist um den Zölibat, der als nicht mehr zeitgemäß gilt. Die Ordination von Frauen, wie sie in den protestantischen Kirchen seit Jahrzehnten üblich ist, findet dort auch immer wieder ihren Niederschlag.

Auf Initiative von Papst Franziskus wurde im August 2016 eine Kommission eingesetzt, die die Aufgaben von historisch belegten Diakoninnen in der Frühen Kirche untersuchen wird. Dies bedeutet aber nicht unbedingt, dass die Zulassung von Frauen zur Weihe geprüft werden soll.

Insgesamt haben theologische und religiöse Auseinandersetzungen in einer säkularisierten Welt einen zunehmend schweren Stand – dies ist kaum vorstellbar, wenn man sich die in dieser Hinsicht vielfältigen Auseinandersetzungen in der Frühen Neuzeit in Europa vor Augen hält. Allerdings wird heute zunehmend über den „return of religion to political life in the West“ diskutiert. 31

9. Anmerkungen

1 - Hermann Kleinholz (Bearb.), Die Protokolle des Presbyteriums der reformierten Gemeinden in Wesel 1612-1624 (= Mitteilungen aus dem Schlossarchiv Diersfordt und vom Niederrhein, Beiheft 38), hgg. durch den Historischen Arbeitskreis Wesel, 2012 (Selbstverlag); Ders., Die Protokolle des Presbyteriums der reformierten Gemeinden in Wesel 1625-1636 (= Mitteilungen aus dem Schlossarchiv Diersfordt und vom Niederrhein, Beiheft 42), hgg. durch den Historischen Arbeitskreis Wesel, 2014 (Selbstverlag). Ergänzend: Klaus Bambauer und Hermann Kleinholz (Bearb.), Geusen und Spanier am Niederrhein. Die Ereignisse der Jahre 1568-1632 nach den zeitgenössischen Chroniken der Weseler Bürger Arnold von Anrath und Heinrich von Weseken, Selbstverlag des Stadtarchivs Wesel 1992 (= Studien und Quellen zur Geschichte von Wesel 14). Es werden den vorliegenden, online präsentierten Ausführungen lediglich Fußnoten beigefügt, wenn textvergleichend verschiedene Quellen hinzugezogen, Handschriften benutzt oder Zitate nachgewiesen wurden. Generell kann als weiterführende Literatur hinzugezogen werden: Raymond A. Mentzer/Françoise Moreil/Philippe Chareyre, Dire l‘ interdit. The Vocubalary of Censure and Exclusion in the Early Modern Reformed Tradition, Leiden/Boston 2010. Allerdings wird hier kein einiges der deutschen Territorien behandelt, da dies ein Forschungsdesiderat ist. Zu speziellen theologischen Fragestellungen der Gegenwart befinden sich Literaturhinweise jeweils an Ort und Stelle.

2 - Ernst Wolsing/Theresia Schachtschneider (Bearb.), Weseler Edikte 1600-1796, 2 Bde., Wesel 1998 (= Selbstverlag der Historischen Vereinigung Wesel)

3 - Vgl. Annette Kurschus, Gemeinde leiten. Handbuch für die Arbeit im Presbyterium, Bielefeld, Bertelsmann Verlag 2016, S. 10. Link: http://www.evangelisch-in-westfalen.de/fileadmin/user_upload/Angebote/Beratung/fuer_ Gremien/gemeinde_leiten-inhalt.pdf

4 - Ebd., S. 12. Das Handbuch Gemeinde leiten geht im 4. Kapitel (S. 30-60) auf die Aufgaben des Presbyteriums ein. Eine Rekapitulierung oder Paraphrasierung der Aufgaben (Gottesdienst und Sakramente, Seelsorge, Diakonie, Bildung, Kirchenmusik und Kultur, Gemeindeaufbau bzw. Gemeindeentwicklung) würde den hier gesetzten Rahmen deutlich sprengen.

5 - Vgl. Jan Hermelink, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens, Gütersloh 2011, S. 45-47.

6 - Presbyteriumsprotokolle 1625-1636, S. 2.

77 - Presbyteriumsprotokolle 1625-1636, S. 2-6.

8 - Presbyteriumsprotokolle 1625-1636, S. 62-63.

9 - Presbyteriumsprotokolle 1612-1624, S. 71-73; StA Wesel A 3, 1617, Bl. 91 b.

10 - StA Wesel, A 3, 1615, Bl. 15 a

11- Presbyteriumsprotokolle 1625-1636, S.45.

12 - Digital unter: http://ds.ub.uni-bielefeld.de/viewer/image/2108424_004/157/, S. 500

13 - Anrath, in: Geusen und Spanier, S. 151.

14 - Vgl. Die Memoiren der Gückel von Hameln, aus dem jüdisch-deutschen von Berta Pappenheim, autorisierte Übertragung nach der Ausgabe von Prof. Dr. David Kaufmann, Wien 1910, Weinheim und Basel 2013 (3. Aufl.), S. 134-S. 138.

15 - Anrath, in: Geusen und Spanier, S. 114 f.

16 - Anrath in: Geusen und Spanier, S. 121.

17 - Vgl. z. B. Sonja Ribbentrop, Pest und Policey im norddeutschen Raum. Die Entwicklung der Pest im Kontext von Wirtschaft, Administration und Policey, Hamburg 2014, S. 48-54 und S. 63-74.

18 - Vgl. Weseler Edikte 1600-1796, Bd. 1, S. 90-92 (Pestordnung vom 16. Juli 1615), S. 162-163 (Pestordnung vom 22. Juli 1624).

19 - Vgl. Ribbentrop, Pest und Policey, S. 41-45.

20 - Weseler Edikte, Bd. 1, S. 312-313.

21 - Presbyteriumsprotokolle 1625, S. 162-163, 196.

22 - Vgl. Weseler Edikte, Bd. 1, S. 232-239.

23 - Vgl. Weseler Edikte, Bd. 1, S. 83.

24 - Vgl. Martin Wilhelm Roelen, Wesel – Kleine Stadtgeschichte, Wesel 2017 (Selbstverlag des Stadtarchivs) , S. 177-179.

25 -Vgl. Hervé Legrand auf der Internetseite des französischen Verlagshauses Éditions du Cerf mit Sitz in Paris, Link: https://www.editionsducerf.fr/librairie/auteurs/livres/577/herve-legrand. Legrand hat sein nachgezeichnetes Bild vom Klerus mit Die Gestalt der Kirche betitelt und bei Peter Eichers Neue Summe Theologie veröffentlicht. Vgl. Hervé Legrand, Die Gestalt der Kirche, in: Peter Eicher (Hg.), Neue Summe Theologie. Der Dienst der Gemeinde, 3 Bde., 3. Bd., Freiburg, 1989, S. 87-181. Marianne Heimbach-Steins nimmt zu Legrands Kritik an der Autonomisierung und der Abspaltung der Kleriker in ihrem zweiten Kapitel über eine Rückbesinnung auf das II. Vatikanische Konzil differenziert Stellung: Vgl. Marianne Heimbach-Steins/Heinz-Günther Schöttler, „... nicht umsonst gekommen.“. Pastorale Berufe, Theologie und Zukunft der Kirche, Münster 2005, S. 83.

26 - Vgl. Helmut Hoping (Hg.), Dienst im Namen Jesu Christi, Freiburg 2001, S. 29-31.

27 - Hünermann war Professor für Dogmatik an den Universitäten Tübingen und Münster. Vgl. Peter Hünermann auf der Internetseite der Eberhard Karls Universität Tübingen, Link: http://www.uni-tuebingen.de/fakultaeten/katholisch-theologische-fakultaet/lehrstuehle/dogmatik/container/dogmatik/emeri ti/prof-huenermann-peter/vita.html . Siehe auch: Hoping, Dienst im Namen Jesu, S. 35. Siehe auch: Hoping, Dienst im Namen Jesu, S. 35.

28 - Ebd., S. 31.

29 - Vgl. Hoping, Dienst im Namen Jesu, S. 35-36.

30 - Vgl. Jan Hermelink, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens, Gütersloh 2011 S. 32-49 sowie die Internetseite der Evangelischen Landeskirche in Baden zu Theologischen Unterschieden von Lutheranern und Reformierten, Link: http://www.ekiba.de/html/content/theologische_unterschiede.html

31 - Vgl. dazu z. B. Josef Hien, The Return of Religion? The Paradox of Faith-Based Walfare Provision in a Secular Age (= Max-Plack-Institut für Gesellschaftswissenschaften, Discussion Paper 14/9), in: http://www.mpifg.de/pu/mpifg_dp/dp14-9.pdf, 15.2.2018. Auch in Zusammenhang mit dem Islam wird rege über „Return of Religion to Political Life “ diskutiert.