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Am 20. Oktober 1994 wird der Dachreiter des Willibrordi-Doms montiert

Der Wiederaufbau des im Zweiten Weltkrieg erheblich beschädigten Willibrordi-Doms gilt als eine der größten Herausforderung im Rahmen des gesamten Wiederaufbaus der Stadt Wesel. In fast fünf Jahrzehnten wurde in Anlehnung an die spätmittelalterliche Ausführung der Dom wieder zu einem nicht nur religiösen Zentrum der Stadt. Höhepunkt und vorläufiges Ende dieses Prozesses war die Montage des Dachreiters auf dem Chor des Doms am 20. Oktober 1994.

Der Wiederaufbau lässt sich grob in sieben Phasen zerlegen. In der ersten Phase um 1950 galt es zunächst, den Baubefund festzustellen, weitgehend zu sichern und die akut einsturzgefährdeten Elemente abzutragen. Die Ergänzungen aus dem 19. Jahrhundert wurden zudem vollständig entfernt. So fand 1952 im Hohen Chor ein erster Gottesdienst nach dem Krieg statt. In der zweiten Phase wurde der statische Gesamtverbund wiederhergestellt, ein gebrochener Vierungsbogen geschlossen und der Chorumgang rekonstruiert. Die dritte Etappe erstreckte sich bis 1968 und war eher eine Zeit der kleinen Schritte, an deren Ende aber der Innenraum des Doms fast vollständig fertiggestellt war. In der vierten und fünften Phase wurden der Querhausgiebel restauriert und im Herbst 1978 der nach mittelalterlichem Vorbild konzipierte Turmhelm aufgebracht. Nachdem – sechstens – auch Westwerk, Turmschaft und Galerie vollendet waren, galt es nun, sich dem Dachreiter zu widmen.

Dombaumeister Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Deurer legte von Anfang an hohen Wert auf eine ansprechende Gliederung der Dachlandschaft des Willibrordi-Doms, wozu eben der Dachreiter auf dem Hohen Chor gehören sollte, dessen Aufbau als Höhepunkt der rekonstruierenden mittelalterlichen Baukonzeption gelten muss. Einen Dachreiter hatte es aus historischer Sicht schon seit dem 15. Jahrhundert gegeben, dieser wurde jedoch 1594 in Folge eines Blitzeinschlags zerstört und erst in wilhelminischer Zeit als neugotischer Vierungsdachreiter wiedererrichtet, aber schon 1945 abermals zerstört.

Professor Deurer studierte nach eigenen Angaben in drei Jahrzehnten fast einhundert Beispiele – schöne, hässliche, große, kleine – und sah vor allem die Proportionierung als Herausforderung. Ein zu großer Dachreiter würde unproportional wirken, ein zu kleiner hingegen seine Wirkung völlig verfehlen.

Konkret wurden seine Pläne erst 1978 nach dem Aufbringen des neuen Turmhelms, als sich die Notwendigkeit einer Chordachbekrönung auch optisch deutlich zeigte. Der Dombauverein gab somit einen konkreten Planungsauftrag und ließ mehrere Modelle des Doms – eines davon im Maßstab 1:50 – erstellen. Die Umsetzung der Pläne verzögerte sich jedoch erheblich, sodass Vertreter des Dombauvereins erst im Mai 1991 anlässlich eines Ministerialtermins erklären konnten, dass zur Vervollständigung der Silhouette ein Dachreiter fraglos erforderlich sei. Man strebte dabei mangels verfügbarer Quellen eine idealtypische Rekonstruktion des frühen 16. Jahrhunderts an.

Bis zur Fertigstellung vergingen aber noch mehr als drei Jahre, da die Kosten den Etat überstiegen und erst die Finanzierung sichergestellt werden musste. Erst im Mai 1994 wurde der Auftrag erteilt. Eine Firma aus Paderborn fertigte das Stahlgerüst, die Holzverkleidung kam aus Senden im Münsterland. Die Gesamtleitung übernahm der Weseler Steinmetz Karl Heinz Baumann.

Am 20. Oktober 1994 bugsierte unter großer Anteilnahme der Weser Bevölkerung ein Kran das insgesamt 16 Meter hohe Gerippe des Chorreiters auf das Domdach. Diese Konstruktion wurde anschließend im spätgotischen Stil verputzt sowie mit Bleiverwahrungen und Spitzen-Eindeckung aus Naturschiefer in sehr kleinen Decksteinen vollendet. Chorreiter und Glocken kosteten insgesamt über eine Million Mark. Seit Anfang Dezember 1994 bekrönt außerdem ein vergoldeter, zwei Meter langer schwebender Posaunenengel – eine Bibel im Arm haltend – den Dachreiter. Das 25-stimmige Glockenspiel erklang wenige Tage darauf zum ersten Mal. Der Dachreiter ist vor allem aus Lotteriemitteln der Dombauvereine in Nordrhein-Westfalen finanziert worden, das Glockenspiel verdanken die Weseler einer großzügigen Spende.

Eine offizielle Feier am 17. Dezember 1994 beendete feierlich den fast fünfzig Jahre währende Wiederaufbau des Willibrordi-Doms zu Wesel. Symbolisch steht die Fertigstellung des Dachreiters für die Erfüllung aller Träume, Pläne und Visionen des Dombaumeisters, des Dombauvereins und natürlich auch der Weseler. Der Glaube hatte hier im wahrsten Sinne des Wortes Schuttberge versetzt.

(Autor: Dr. Heiko Suhr)

Abbildung: Willibrordi-Dom mit dem 1994 montierten Dachreiter (nach 1994) (StAW O1a, 1-13-23-4_001)